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Die Prüfung

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„Der Schneeschuhlauf ist der König des Sports!“, sagte Lola Lehner und führte ihre Schußfahrt in Hockestellung aus.

„Dir zuliebe würde ich mir,selbst den Fuß brechen“, rief ihr Erhard von Härtung nach und rutschte mit quer gestellten Skiern seitwärts hinunter. Dann kantete er nach innen und hielt im kurzen Bogen vor ihr.

Beide schnallten die Schuhe ab und traten wohlgelaunt ihren Heimweg an.

„Mir zuliebe wolltest du dir einen Fuß brechen? Nein, solche Opfer verlange ich nicht! Freilich bin ich als Turngehilfin widerruflich___“

„Du kannst auch unwiderruflich werden“, ergänzte Erhard und spielte mit seinen Fäustlingen aus Segeltuch. ,.Ob widerruflich oder unwiderruflich: das Heilsamste für dich ist die Ehe! Du hast doch mein Herz. Greife zu: werde Frau Härtung. Ich bin an der Hochschule Hilfslehrer und trete am Ersten mein eigenes Lehramt an!“

„Jawohl, du wirst Professor, kannst eine Frau ernähren und wenn du sparsam bist, auch Kinder .. “

„Warum höhnst du mich? Ist dir mein Wort zu verbindlich?“

„Gewiß ist es mir zu verbindlich. Du hast eine so merkwürdige Art, mich ins Abhängige zu treiben. Ich bin nüchtern, herb, manchmal auch hart. Meine Heimsuchungen waren danach. Ich kam, die Mutter ging. Halb noch Kind, verlor ich den Vater. Ich verdiene nicht viel, aber es genügt, daß ich leben kann. Übrigens vergaß ich dir zu sagen, daß ich Mittwoch die Schriftliche habe. Bei der Mündlichen habe ich mich neulich bewährt, nicht aus Großmut des Prüfers. Freilich fürchte ich mich vor der Schriftlichen. Ein weißer Bogen und eine Feder: das macht mich verwirrt!“

„Fürchte dich nicht, die Schriftliche ist einfach“, antwortete Erhard, als er seine Schirmmütze um die Ohren klappte und seine Wolljacke anzog.

„Fürwitziger, woher weißt du, daß die Schriftliche einfach ist?“

„Durch eine Fügung. Mein Vorgesetzter ersuchte mich, für die Staatsprüfungen vorzuarbeiten und mir da Schriftstück geben zu lassen. Die Beamtin aber gab mir euren Akt. Ich sah ihn durch, als müßte mir ein Zeichen vor dir kommen!“

„Du sagtest, daß du dir mir zuliebe einen Fuß brechen wolltest?“

„Ja, das sagte ich, und ich wiederhole es!“

„Das erste und das Wichtigste, was ein Mann lernen muß, ist das Worthalten. Beim Fußbrechen nehme ich dich natürlich nicht beim Wort. Aber höre mich an. Dir rieseln die Gedanken aus dem Blau herunter. Ich kenne das aus deinen Briefen. Mach mir die Schriftliche! Den Stoff weißt du ja und das andere ist für dich eine Spielerei!“

„Das wäre eine Pflichtverletzung, ein Mißbrauch meines Amtes!“

„Wie: einen Fuß willst du dir brechen, aber zwei Seiten deines Geistes willst du mir “nidit opfern?“

„Lola, nehme an, die Beamtin hätte sich nicht geirrt und mir den richtigen Akt auf den Tisch gelegt. Dann wüßte ich den Stoff deiner Schriftlichen nicht!“

Aber Lola drängte und drängte. „Jemand sagte, die Liebe sei eine köstliche Blume, nur müsse man den Mut haben, sie am Rande eines entsetzlichen Abgrundes zu pflücken. Wenn du mir die Schriftliche machst, komme ich durch und werde unwiderruflich!“

„Ob widerruflich oder unwiderruflich: das Heilsamste für dich ist die Ehe!“ wiederholte Erhard. Er begleitete Lola noch eine Weile, durfte aber nicht bis zu ihrem Wohnhause gehen. In der Mauernische einer Sackgasse mußte er Abschied nehmen.

„Also, Fußbrecher aus Liebe, was ist es mit der Schriftlichen aus Liebe?“

Lolas Frage kam ihm vor wie eine Bedingung. Er wurde nachdenklich und fühlte es: Schwaches zwingt Starkes. Etwas an Lola-bändigte ihn durch Empfänglichkeit. Da straffte er sich und sagte: „Ich mache dir die Schriftliche! Hole sie dir am Dienstag ab.“

Am anderen Tage hatte Erhard an der Hochschule zu tun. Als er noch immer den irrtümlichen Akt auf seinem Schreibtische fand, sah er sich den Stoff aufs neue an. Freilich wäre es ihm ein leichtes, ein Gerippe zu entwerfen, dazu Lola Fleisch und Blut hätte geben können. Aber es war sonderbar. Es plagte ihn dasselbe, was ihn die ganze Nacht nicht hatte schlafen lassen: das Gewissen. Durfte er das Vertrauen seines Vorgesetzten mißbrauchen? Ist es nicht eine gefährliche Krankheit, der Versuchung ergeben zu sein? Er klammerte sich an jedes Für und Wider, und alles hatte Gewicht. Warum hatte er es Lola versprochen? Er hatte sie erröten gesehen, und ihr Erröten hatte ihn befangen gemacht. Derart erröten können nur brauchbare Menschen. Was wäre übrigens dabei, wenn er ihr den Stoff entwürfe? Was für faule Dinge, der Frauen halber, sind in der Welt nicht schon geschehen? Liegt es nicht in ihrer Hand, den Mann dahin zu leiten, wo sie ihn haben wollen? Es klang doch so feierlich und so vertrauensvoll dieses: „Fußbrecher aus Liebe, was ist es mit der Schriftlichen aus Liebe?“ Und dennoch: gerade diese Art von Belohnung stieg ihm nachdenklich zu Kopf. Ihr . Herz für eine Windbeutelei? Nein! Und er schrieb ihr einen Rohrpostbrief, sie möge sich das Versprochene nicht abholen, er habe es nicht gemacht. Dennoch liebe er sie. Gott wisse es.

Also kam Lolas Prüfungstag heran. Erhard arbeitete wieder für seinen Vorgesetzten, brachte aber nichts weiter. Er blickte bald verloren auf die Schriftstücke, bald auf den trockenen Pulverschnee auf der Straße. Und als er gerade an das ruckweise Schwingen beim Kristianiasprung dachte, brachte ihm der Schulwart von Lolas Mädchengymnasium einige Zeilen von ihr. Ob er auf den Cobenzl kommen wolle. Dort gebe es ein herrliches Skiwetter. Auch könnten sie in der Mittagspause vielleicht allein laufen. Erhard las den Brief und vermeinte, an einer Verrückung seines Blickes zu leiden. War denn Lola nicht bei der Schriftlichen? Sein innerer Tumult wurde so groß, daß er nur wenige Worte schreiben konnte: „Ich komme nach eins auf den Cobenzl!“ Er hätte wahrscheinlich auch das noch nicht geschrieben, wenn ihm nicht der ungeduldige Schuldiener zu verstehen gegeben hätte, daß er noch in den Stadtschulrat gehen müsse.

Als sich Erhard auf dem Cobenzl einfand, nahm ihn Lola gleich für das Fahren im Stemmbogen und das Schulen der Schnee-pflugstellung in Anspruch, ohne auch nur mit einem Worte von ihrer Prüfung zu reden. Sie verdoppelte ihren Sportseifer und zeigte die ganze Zeit hindurch so unvergleichliche Leistungen, daß er sie wiederholt loben mußte.

„Du braucht dich deines Könnens nicht zu schämen“, sagte Erhard, für den es im Augenblicke nichts Herrlicheres gab, als die Freude am Skilaufen.

„Und doch, Erhard, ich schäme mich! Ich schäme mich -hundertmal! Ich habe dich um einen Schwindel für meine Schriftliche gebeten. Irgendein Kobold gab es mir ein, dich zu versuchen, ob du ein Mann oder nur ein Männchen bist. Ich war gefaßt auf ein Angefahrenwerden. Du aber hast mir den Schwindel zugesagt. Noch Montag früh überfiel mich eine bußfertige Stimmung, und um dich nicht in einen Zwiespalt zu bringen, bin ich von der Prüfung zurückgetreten. Als ich deinen Rohrpostbrief erhielt, war mein Rücktrittsgesuch bereits bei demem Vorgesetzten. Deine Absage ist also ein Sieg für dich. Ein Sieg deines Gewissens, Ich aber schäme mich!“

Danach glitt sie mit zusammengestellten Schneeschuhen in aufrechter, etwas nach vorne gelehnter Haltung die Hänge bergab-um zuletzt einen kühnen Quersprung zu machen. Erhard aber hohe sie beim Schloßhotel ein und sagte ihr: „Als Sühne für die Versuchung, die du mir auferlegt hast, kommst du jetzt mit in den Kaffeesalon!“

Als sie dann bei der Jause saßen und ein Sprechgerät gerade den Donauwalzer spielte, da bog sich Lola zu Erhard und raunte ihm zu: „Ich will dich etwas fragen. Aber lege drei Finger aufs Herz und schwöre mir, nicht nein zu sagen!“

Erhard leistete den geforderten Schwur, und nun war Lola sichtlich froh, ihre Frage anzubringen.

„Was sagst du zu einer ganz schlichten Trauung in der ...“

Erhard fuhr auf. „Du willst dich mit mir...

„Nur mit dir, denn du bist wahrhaftig ein Mann!“ sagte sie und legte drei Finger aufs Herz.

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