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Digital In Arbeit

Die Ruck

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Der Mann schob sich nur langsam vorwärts.

Zentimeter um Zentimeter tastete er sich in der Finsternis weiter.

Er lag auf dem Bauch und bewegte sich mit Händen und Füßen Stück für Stück voran. Manchmal hielt er inne und horchte.

Wie lange er in dieser Röhre steckte, hätte er kaum sagen können. Viele Stunden waren es jedenfalls, vielleicht Tage. Ewigkeiten aber schienen es zu sein. Ewigkeiten, von denen die unermeßlichste noch vor ihm lag. Schwarz und gefährlich, wie die Röhre selbst, die vor seinem Kopf und hinter seinen Beinen in die Unendlichkeit weiterlief.

Jons steckte hier drinnen, und draußen würde man ihn längst suchen.

Mit schußbereiten Karabinern mochte man ihm nachspüren, mit Bluthunden, denen der Speichel vom Maule troff, wenn sie auf eine Fährte gesetzt wurden.

Jon horchte in die Dunkelheit, die ihn rings umgab.

Er vernahm keinen Laut.

Wieder zog er die Arme und Beine in höchst unregelmäßigen Abständen an, um sich ein paar Meter weiterzubewegen. Meter, von denen jeder Bruchteil mit großer Anstrengung zu überwinden war.

Es war alles viel schwieriger, als Jon es sich in seinen monatelagen Fluchtgedanken ausgemalt hatte. Vor allem war die Röhre selbst enger, als Jon gedacht hatte. Er konnte zwar hindurchkriechen, aber Knie und Ellenbogen waren durch die Reibungen bereits wundgescheuert. Und auch im Rücken verspürte er heftige Schmerzen.

Aber daran dachte er jetzt nicht. Er überlegte vielmehr, welche Situation sich ergeben könnte, wenn er ans andere Ende gelangt sein würde.

Auch zurück, in die Vergangenheit, glittten Jons Gedanken.

Früher war er Ingenieur in jenem Werk gewesen, in dem er nun schon seit Jahren gefangengehalten worden war. Als der Umsturz das Land überrannt hatte, waren über Nacht aus Ingenieuren Hilfsarbeiter geworden, und aus Handlangern Aufpasser.

Die Produktion lief zunächst irgendwie weiter, wie auch ein Wagen weiterlaufen kann, selbst wenn sein Fahrer das Steuer nicht mehr fest in den Händen hält.

Wie- lange solch ein Wagen weiterläuft, ist ungewiß. Ebenso ungewiß war es auch, wie lange das Werk arbeiten konnte, wenn die Denkenden ausgeschaltet waren.

Jon hatte einst Pläne gezeichnet und Maschinen entworfen. Er war nicht der Leiter des Werks gewesen, aber ein tüchtiger Mitarbeiter. Man hatte ihm zuletzt auch wichtige Aufgaben übertragen. Er befand sich nicht mehr im Jünglingsalter, sondern in jenem, das gerade auf diesem Gebiet zu Höchstleistungen befähigt.

Als der Umsturz gekommen war, hatten sie ihn sofort verhaftet.

Jaro, den er wegen nachlässiger Arbeit früher hatte immer wieder ermahnen müssen, derselbe Jaro war plötzlich als Leiter des Unternehmens im Büro gesessen.

Eine seiner ersten Handlungen war es gewesen, dem Ingenieur Jon mit den Fäusten das Gesicht blutig zu schlagen.

Jon hatte sich nicht dagegen wehren können, weil links und rechts Kerle gestanden waren, die ihn an den Armen gepackt hatten.

Dann war er zu den anderen geschleppt worden.

Zu Karel, der einmal sein Werkmeister gewesen war und gerade Blut souckte, als Ion in dem stickigen, fast lichtlosen Raum zu ihm getreten war. Zu Heinrich, der als Fachmann von drüben in das Werk geholt worden war tind hier mit neuen Methoden croße Erfolge erzielt hatte. Ihm hatten sie fast alle Zähne eingeschlagen.

„Rumholdt haben sie totgeprügelt“, hatte einer gesagt. Das war sein Chef gewesen. „Seine Frau ist mit anderen fort.“

In der Ecke war Philipp gelegen, den die bewaffnete Horde zusammengedroschen hatte, obwohl der schmächtige Mann mit Sechzig sich nicht im geringsten hatte wehren können.

Er hatte schrecklich ausgesehen. „Philipp“, hatte Jon nur gestöhnt, „Philipp ...“

Ein Geräusch ließ, ihn hochfahren. Er. stieß mit dem Schädel gegen die Röhrehdecke. Da duckte er sich wieder. . '

Draußen aber blieb es still.

Jon lauschte angespannt, aber nichts war mehr zu hören!

Er hatte kein Streichholz mehr, denn die, fünf, die sein Besitz gewesen waren, als er sich in die Röhre geschoben hatte, waren längst verbraucht.

Jon spürte Hunger. Aber der Durst war, seit Stunden schon, noch ärger.

Er beschloß, ein wenig auszuruhen, um sich dann mit vermehrter Anstrengung weiterzuarbeiten.

Die Röhre war innen keineswegs glatt, wie er gehofft hatte, sondern ziemlich rauh. Außerdem lag glitschiges, erdiges Zeug darin, das stank. Als Jon sich zurechtrückte, griff seine rechte Hand auf ein schleimiges Etwas, das rasch entwich.

Ekel überkam ihn.

Wenn er wenigstens irgend etwas hätte sehen können. Aber der Gefahr, dem Grauen wehrlos im Dunkel zu begegnen, würde allmählich über seine Kräfte gehen.

Wieder dachte er an das, was hinter ihm lag.

Jahre hatte er in diesem Werk zugebracht. Als freier Mann zuerst.

Und dann waren Jahre gekommen, in denen er am gleichen Ort ein Gefangener gewesen war. Als ein Sklave unter vielen. Als einer unter jenen, denen schwere Lasten aufgebürdet wurden, unter denen sie zusammenbrechen mußten.

Und. täglich hatte man ihnen Wassersuppe zu essen gegeben. Ein Stück Brot vielleicht dazu, wenn sie Glück hatten.

Jons Beine waren angeschwollen und hatten fürchterliche Schmerzen verursacht.

Längst hatten alle müde Gesichter bekommen, in denen kein Funke Hoffnung mehr zu lesen stand.

Rumboldt war damals auf der Stelle erschlagen worden.

Sie aber würden langsam gemordet werden. An den Feuerungen, die sie ohne Schutz zu bedienen hatten, an den Baustellen, wo sie mitunter siebzehn Stunden lang ohne Unterbrechung aufs schwerste zu schleppen hatten.

Und mit Nahrung, die keine Nahrung mehr war.

Eines Tages hatte es dann geheißen, daß Kilt und Jambor bei einem Fluchtversuch erschossen worden seien. Andere waren schon vorher, ent-

kräftet und geschunden, ohne jeden Lärm gestorben.

Sie waren alle stumpf geworden, und der Tod mochte die Erlösung sein.

Nur Jon hatte von Anfang an diesen Fluchtweg als Möglichkeit erwogen. Aber in all den Monaten und Jahren der Gefangenschaft hatte er keinen einzigen unbewachten Schritt tun können.

Vom ringsum schwer kontrollierten Werk führte ein toter Kanal weg, der irgendwo im nahegelegenen Wald münden mußte.

Es war eine Röhre, die einmal anläßlich einer Werkvergrößerung gelegt worden, aber später niemals verwendet worden war.

Jon hatte sofort daran gedacht, weil er damals dabeigewesen war, als man sie gelegt hatte.

Jon hatte auch sofort gewußt, daß ein Mensch eben noch hindurchkriechen konnte, wenn er auch unendlich lang brauchen mochte, um bis ans andere Ende zu gelangen.

Eines Tages hatte er die Sache mit Kilt besprochen, dem er vertraute. Kilt war sofort einverstanden gewesen und man hatte flüsternd Pläne gemacht. Eines Tages aber mußte Kilt es sich überlegt haben, da er plötzlich mit Jambor verschwunden war.

Dann war die Nachricht gekommen, daß er an sieben Kugeln gestorben sei, die seinen Körper durchbohrt hatten. Keiner der Gefangenen hatte es gesehen, denn auch Jambor war nie mehr zurückgekehrt.

Aber alle hatten die Schüsse vernommen.

Und am nächsten Tag hatte es nicht einmal Wassersuppe gegeben.

Jon hatte lange warten müssen, um endlich seine Chance wahrnehmen zu können. Sie war gekommen, als man ihn an das Holzlager versetzt hatte. Latten und Balken hatte Jon dort zu schleppen gehabt, schwere Stämme zu schlichten und grobe Scheite zu hacken. Dazwischen aber hatte er feststellen können, daß das von wilden Stauden umwucherte Röhrenende noch genau so dalag, wie er es sich ausgemalt hatte. Kein Mensch mochte noch davon wissen, denn Jon hatte es auch erst nach langem Suchen, immer gedeckt l gegen die Aufpasser, wiedergefunden.

Und dann war Jon in einer Sternenlosen Nacht hineingekrochen, während hinter ihm das Sträucherwerk zusammengeschnellt war und sicherlich keine Spuren hinterlassen hatte.

Jon hatte daran gedacht, daß man ihn morden würde, wenn man ihn finden sollte. Er hatte aber auch zugleich gewußt, daß er diesen Weg gehen mußte und daß es kein Ueberlegen mehr geben konnte.

Dies war seine einzige Chance gewesen.

Die Röhre führte unter der Erde durch einen kleinen Hügel in den Wald. Die Postenkette aber stand unmittelbar um das Werk herum. Der seltsame Fluchtweg führte mitten durch sie hindurch.

Würde Jon erst einmal im Wald angelangt sein, so wollte er schon weiter kommen. Die Grenze lag nicht allzu fern. Zumindest würde er einen gewissen Vorsprung haben.

Dann war ein Augenblick gekommen, in dem Jon geglaubt hatte, ersticken zu müssen. Doch dazu kam es nicht, denn es gab genug Luft in der Röhre, wenn sie auch stickig und von Moder gerüchen durchzogen war.

Das Stück Brot, das Jon zu sich gesteckt hatte, war längst verzehrt.

Der Durst aber schien nun unerträglich zu werden.

Trotzdem hob Jon den Kopf und kroch mühsam weiter.

Täuschte er sich?

War das nicht frischer-e Luft, die ihn umgab?

Jon bewegte sich plötzlich schneller, soweit er dies in seiner Lage vermochte.

Vorne sah er einen schwachen Schimmer.

Sollte er es geschafft haben?

Aber, als er endlich herankam, erkannte Jon, daß es nur eine Bruchstelle war. Bomben mochten die Röhre hier beschädigt haben, vielleicht auch ein gefallener Baum.

Tief zog Jon die Nachtluft in die Lungen. Ja, es war wieder Nacht. Die wievielte seit seiner Flucht?

Plötzlich hörte er Stimmen.

Schwere Tritte kamen heran.

Allmählich verstand Jon, was geredet wurde. Zwei Männer sprachen von alltäglichen Dingen. Einmal erzählte einer einen Witz, worauf beide schallend lachten.

Jon hätte laut herausbrüllen mögen. Nicht, weil der Witz so glänzend gewesen war, sondern um sich von dem ungeheuren Druck zu befreien, der auf seiner Seele lag. Diese Situation war gefährlich und blöde zugleich, so schien es ihm.

Waren jene, die da draußen saßen, Männer, die ihn suchten?

Sie mußten sich gesetzt haben, denn eine Weile schon konnte Jon ihr Gespräch deutlich nitanhören.

Plötzlich aber sprachen sie von ihm. Jon rpürtc, wie kalter Schweiß sein verdrecktes Hemd feuchtete.

Der eine sagte, daß er es satt habe, seit zwei \~agen diesen verfluchten Kerl zu suchen.

Der andere pflichtete ihm bei. Außerdem meinte er, daß es zwecklos sei, hier hcrum-zusuchen, weil der Flüchtige sicherlich durch den Fluß ans andere Ufer geschwommen sei. Er meinte einen Wasserlauf, der sich nördlich des Werkes hinzog.

Jon kauerte sich zusammen, als böte sich in der engen Röhre noch ein weiteres Versteck.

Die Kerle mochten wieder weitergegangen sein.

Jon blieb reglos liegen, als könnte er sich jetzt noch durch eine Bewegung verraten.

Nach einiger Zeit erst räumte er vorsichtig die Trümmer beiseite, die an dieser Bruchstelle ins Innere der Röhre gefallen waren.

Er war der Erschöpfung nahe.

Mit einer Hand vermochte er eben noch eine Pfüt7e zu erreichen, die von einem Regen zurückgeblieben sein mochte. Seine vertrockneten Lippen sogen gierig die Feuchtigkeit an sich.

Sollte er die Röhre verlassen? Hier war es möglich, wenn er noch ein Stück Wand herausbrach.

Aber wie weit würde er im flachen Gelände schon kommen?

Nachdem er die Nachtluft eingesogen hatte, ekelte ihn um so mehr davor, aufs neue im stickigen Dunst der Röhre weiterzukriechen.

Aber es blieb ihm keine andere Wahl.

Er mußte hier weiter.

Heraus konnte er ja notfalls auch1 an dieser Stelle. Dieser Gedanke beruhigte Jon einigermaßen, denn bisher hatte er nicht gewußt, ob er je wieder ans Tageslicht geraten würde.

Am Ende dieses Fluchtweges aber lag die größere Chance. Im Wald konnte Jon sich viel besser verborgen halten.

Er kroch weiter.

Gemessen an der Strecke, die er bereits zurückgelegt haben mochte, konnte das restliche Stück nur noch kurz sein.

Dennoch schien es die Hölle zu bedeuten.

Aber dann kroch Jon endgültig ins Freie.

Diesmal war es heller Tag und Jons Augen schmerzten, als er ins Sonnenlicht trat.

Nun fühlte er, wie schwach er war.

Bäume und Sträucher, selbst der Himmel über ihm — all das begann sich erst langsam, dann schneller um Jon zu drehen.

Er sank entkräftet zusammen.

Zu Bewußtsein kam er erst wieder, als man ihn hochriß.

,.Hat Kilt also doch nicht gelogen“, lachte einer, der ein Gewehr trug. Ein anderer hielt Jon mit beiden Fäusten fest.

Der mit dem Gewehr schlug Jon schwer ins Gericht.

Dann schleppten sie ihn fort.

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