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Die Unterrichtsstunde

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Es war die merkwürdigste Deutschstunde, der ich je beigewohnt hatte. Da saßen sieben Jungen im Alter von neun bis dreizehn Jahren, alle bis auf einen taub, alle aber, auch dieser eine, sprachbehindert. Sie übten einen Satz in den drei Zeiten Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft: Der Bauer hackt, der Bauer hat gehackt, der Bauer wird hacken.

Das fiel ihnen nicht leicht. Der eine, der hörte, tat sich am leichtesten, Ja, sagte der Lehrer, er hat noch am stärksten das natürliche Sprachgefühl mitbekommen. Die Tauben sind für gewöhnlich Agrammatiker. Weil sie nicht hören, können sie das Sprechen auch nicht wie jedes Kind mit gutem Gehör ganz unbewußt mitlernen. Sie reden meist in der Nennform, die Zeiten machen ihnen große Schwierigkeiten. Dazu kommt noch, daß cs mit ihrem Denken nicht immer stimmt. Alles zusammen mit dem Kiefer, der nicht in Ordnung ist, müssen sie sich furchtbar plagen. Vor allem bringen sie die Konsonanten nicht heraus. Man arbeitet da am besten mit Bildern und Dioramen. Oft hilft das geschriebene Wort. Wenn sie das Wort sehen, können sie es auch aussprechen.

So war es tatsächlich. Der Lehrer, ein heiterer Mensch, voller Liebe zu diesen körperlich und geistig behinderten Kindern, hatte sich eine eigene Methode zurechtgelegt. Die Jungen, teils waren sie unaufmerksam und mußten inimėT ’wieder," gemahnt werden, hatten ihn gern. Man sah es an ihren leuchtenden Augen, die sich so gar nicht unterschieden von den Augen gesunder Kinder.

Die ganze Stunde ging es so fort' Der Bauer hackt. Der Bauer hat gehackt. Der Bauer wird hacken. Unsägliche Mühe und Geduld mußte da ein Lehrer aufbringen. Er mußte ihnen die Wörter und Buchstaben aus dem Mund ziehen. Nicht immer brachten sie es nach dem Wunsch des Lehrers zustande, aber sie waren mit Ernst und Eifer bei der Sache.

Der Lehrer ließ jedesmal den Bauern wie einen großen Schauspieler in seinem einfachen Diorama auftreten. Er kam herbei mit einer Hacke unter dem Arm und begann seine Arbeit.

Vitus, was macht der Bauer?

Hacken. Rauh gesprochen, ganz hinten, mit vielen Reiblauten.

Ja, hacken. Der Bauer ...?

... hackt. Das K und das T am Ende waren eine schwere Hürde für Vitus. Der Spiegel mußte her. Der Lehrer sprach das Wort vor, Vitus sah ihm im Spiegel auf den Mund. Dann nahm er den Satz ziemlich sicher.

Nun das zweite Bild, wieder ein großer Auftritt für den Schauspieler Bauer. Er stützte sich auf seine Hacke und blickte zufrieden um sich, ja, er hatte mit seiner Arbeit aufgehört.

Was macht der Bauer jetzt? Siegfried!

Der Bauer ... Siegfried dachte nach.

Der Bauer .. .?

Ein Blitzen in den Augen, nur kurz. Der Bauer hat gehackt.

Richtig.

Siegfried strahlte über das ganze Gesicht.

Und was ist das nur jetzt? Dieser wunderbare Schauspieler Bauer humpelt auf den Baum zu, die Hacke unter dem Arm, aber er macht gar nichts. Wartet er etwa auf das Beifallsklatschen der Zuschauer, die ihn nun schon kennen ,und seine Leistung laut anerkennen sollen? Ist er ein Star, verwöhnt und seiner selbst so sicher, daß er sie zwingen wird, zu klatschen?

Hermann! Was macht der Bauer? Der Bauer...

Der Bauer ...?

Nun, sieh den Bauern an.

Der Bauer ... wird ... hacken.

Das war vorzüglich gegangen, nach vielen Stunden der Plage. Wie Festesfreude verbreitet es sich in der kleinen Schulstube mit den hübschen, hellen Bänken.

Der Bauer hackt.

Der Bauer hat gehackt.

Der Bauer wird hacken.

Es muß recht oft wiederholt werden.

Und dann ist die Stunde aus. Die Jungen haben mich genug beobachten können, sie haben jede Scheu verloren, und da fragt mich einer: Wie alt bist du?

Der Lehrer sagt: Du darfst nicht sagen: Wie alt bist du? Wie alt sind Sie? mußt du sagen. Wie mußt du sagen?

Das ist fast schwieriger als der Bauer, der hackt, gehackt hat und hacken wird. Alles im Mund sperrt sich gegen diese Frage mit dem Sie. Das Du ginge leichter.

Wie alt sind Sie? fragt er endlich. Die beiden S in unmittelbarer Nähe sind kaum zu überwinden, wie zwei Lanzenreiter sprengen sie vor, der eine fällt, der andere stürzt über ihn, ein heilloses Durcheinander verkeilt sie beide, und daß sie im Galopp dahergeritten kamen, verwickelt sie schier unlöslich.

Er muß es noch einmal sagen. Er muß es dreimal sagen.

48. sage ich, recht laut und deutlich, damit sie mich auch alle verstehen. Ich habe es dem Lehrer abgeschaut.

Oh, rufen jetzt alle, sooo alt!

Da lachen wir, und der eine, der sein tadelloses Gehör hat, sagt: Meine Großmutter ist aufch 72 Jahre alt.

48 und 72, das liegt nicht weit auseinander für diese Jungen, auch wenn es ihnen der Lehrer jetzt auf seiner Rechenmaschine zeigt, die anders ist als jene mit den Kugeln auf den Stangen, die wir alle kennen. Aber als wir Kinder waren, erging es uns genau so, wenn jemand von einem Mann oder einer Frau mit 48 Jahren sprach. Sooo alt, haben wir dann gesagt.

Wir traten ins Freie. Ja, sagte der Lehrer, sie sind nicht anders als alle Kinder. Auch in ihnen lebt eine reiche Seele. Es ist nur schwer, auf ihr zu spielen.

Ich sah ihn an. Sie haben recht, versetzte ich. Aber wer denkt in der Hast unserer Zeit daran?

Ich muß es, sagte der Lehrer. Und vielleicht bewahre ich mich deshalb auch vor dieser Unruhe. Sie ist tödlich.

Wir verabschiedeten uns. Ich ging in den Nebel hinein, die Schule, das ganze Dorf dieser körperlich und geistig behinderten Kinder versank in diesem Nebel. Nach einer Weile stand ich wie verlassen an einer Wegkreuzung. Ueber- all weites Land, verfließend, keine Sicht mehr, Nebel. Sie ist tödlich, höre ich den Lehrer plötzlich, so, als stehe er dicht neben mir. Ja, ich spüre es mit einemmal. Unsere Hast ist tödlich. Aber dann sehe ich die Kinder wieder in ihrer Unterrichtsstunde, ich sehe den heiteren Lehrer sich um sie bemühen. Liebe gegen Hast.

Der Bauer hackt, der Bauer hat gehackt, der Bauer wird hacken — unzählige Male, monatelang, bis es sitzt. Der Bauer wird dabei ein immer größerer Schauspieler, aber er ist es nur, weil er ein Bauer bleibt, der keine Hast kennt, und deswegen wird er für diese Schule zum Sinnbild.

Der Bauer hackt.

Der Bauer hat gehackt.

Der Bauer wird hacken.

Nichts wird überstürzt, er tut alles gemächlich, aber er geht ohne Verlustpunkte der Seele durchs Ziel.

Ein Sinnbild.

Die Jungen werden wachsen, und eines Tages wird es so weit sein, daß sie ins Leben treten und ein Handwerk erlernen können. Niemand hat es vermutet, bevor sie diese Schule und diesen Lehrer aufgesucht haben. Auch sie werden durchs Ziel kommen. Ja, sie werden in der Welt ankommen und nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sein. Das wird ihre Minderwertigkeitsgefühle einschläfern. Liebe gegen Hast! Denn die Hast läuft immer an der Liebe vorbei.

Sie ist tödlich, sagt der Lehrer, und steht noch immer neben mir.

Es ist aufreibend,-sage ich. Doch muß-uns an jedem Menschenkind liegen. Nur so wachsen wir in eine tiefere Menschlichkeit.

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