6626715-1956_13_06.jpg
Digital In Arbeit

Dr. Hostlers Weg zu Gott

Werbung
Werbung
Werbung

Alt Rechtsanwalt Dr. Hostler aus seiner Versonnenheit auffuhr und zum Wagenausgang eilte, fuhr die Straßenbahn bereits wieder weiter. Dr. Hostler sprang auf das Trittbrett und von diesem auf die Straße. Im gleichen Augenblick, da seine Füße den Asphalt berührten, verspürte er einen leichten Stoß in den Kniekehlen, der ihn einknickte, zur Seite warf und ihn genau zwischen Triebwagen und Beiwagen auf die Schienen setzte. Der Schaffner hatte inzwischen ein Glockensignal gegeben, Sand knirschte, und Dr. Hostler sah ein glänzendes, stählernes Rad langsam auf seinen linken Knöchel zurollen und dann stillstehen.

Er hatte die letzten beiden Sekunden in einem seltsamen, unbekannten Zustand verbracht, halb wie im Traum und doch hellwach, mit einem namenlosen Entsetzen. Jetzt sprang er auf und war mit zwei Sätzen auf dem Gehsteig. Ein Personenwagen fuhr mit rasehem Tempo davon. Dr. Hostler hörte die Pfiffe des Verkehrspolizisten und die Rufe erregter Passanten. Er sah, daß man ihn noch zwischen den Rädern suchte, und handelte instinktiv und seiner Mentalität entsprechend. Er durchquerte eilig die Menge, erreichte einen Taxistandplatz und fuhr, zwei Minuten nach seinem Intermezzo mit dem Tode, der Opernkreuzung zu.

Dr. Hostler entzog sich den Konsequenzen aus Angst vor Strafe und aus einem angeborenen Bestreben heraus, niemals im Blickfeld der Oeffentlichkeit zu stehen. Er hatte daher auch seinen Beruf verfehlt, hatte noch nie einen bedeutenden Fall vertreten und war in einem Leben von Komplexen, unbefriedigten Wünschen und geheimen Sehnen vierzig Jahre alt geworden.

An dies alles dachte der Rechtsanwalt auf seiner Fahrt zur Opernkreuzung nicht. Er rauchte eine Zigarette und las immer wieder Namen und Adresse des Taxiunternehmers, die auf einem weißen Emailschild vor seinen Augen angebracht waren. Sein Gehirn hatte die normale Tätigkeit noch nicht wieder aufgenommen.

Erst als er langsam die Kärntner Straße hinunterging, in der heißen, flimmernden Luft eines Juninachmittags, und lachenden Menschen begegnete, die ihn nicht beachteten, drang wie rauschendes Wasser auf ihn die Erkenntnis der großen Gefahr ein, der er soeben entronnen war, als der Tod mit ihm auf den Schienen gesessen war.

Er blieb stehen und fühlte seinen Puls, der seltsamerweise ruhiger als gewöhnlich ging, als hätte er den Vorfall noch nicht begriffen, bewegte Arme und Beine, und da er keine Schmerzen verspürte, erwachte in ihm eine Art Glücksgefühl, das immer stärker und schließlich Dankbarkeit wurde. Diese Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber fand ein schärfer umrissenes Objekt in Dr. Hostlers Neigung zur Metaphysik, aus der sich nun der Begriff Gott schälte.

Zwischen Walfisch- und Johannesgasse entwickelte sein Geist eine fieberhafte Tätigkeit. Er durcheilte alle Stadien von Selbstvorwürfen und Reue über ein jahrzehntelanges Ignorieren von Religion und Väterglauben, verfluchte seine allen Situationen des Lebens gerecht werdende Weltanschauung und glaubte in seiner wunderbaren Errettung die Zuneigung eines höchsten Wesens zu erkennen, ein Gedanke, den er sogleich wieder als anmaßend empfand.

Bei der Annagasse wichen seine widerstreitenden Gefühle dem gelübdeartigen Entschluß, in seinem Leben Wandel zu schaffen, Gott als Herrn zu akzeptieren und darnach zu leben. Gott würde es dann nicht mehr notwendig haben, ihn mit drastischen Mitteln an seine Pflichten zu erinnern. Er würde nie wieder vor Gericht dunkle Existenzen verteidigen und alle Beziehungen zu fragwürdigen Frauen abbrechen. Mit diesem Vorsatz erkannte der Junggeselle Dr. Hostler die ersten Schwierigkeiten seines neuen Lebens. Er mußte also heiraten. Dabei kamen ihm wieder Zweifel über die Logik einer allfälligen Renovierung seines Lebens, und er war nahe daran, seine Gemütsverfassung infolge des Unfalles für Hysterie zu halten. Und da er sich vor der Möglichkeit fürchtete, Gott könnte ihm diesen Gedanken als Sünde anrechnen und ihn sogar vielleicht dafür bestrafen, wurde er unruhig und begann zu schwitzen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Dr. Hostler den Graben erreicht und sah die Stephanskirche, uralt und grau im strahlenden Sonnenlicht; ihre Spitze überragte die Stadt und lag am Himmel wie auf einem blauen Polster. Dieser Anblick erregte in Dr. Hostler ein neues Gefühl. Er betrachtete sich plötzlich nicht mehr allein in seiner Auseinandersetzung mit Gott, von dem er gar nicht wußte, ob es Ihn gab und den er doch mit einem dumpfen Instinkt liebte und fürchtete zugleich. Die alte Kirche erschien ihm als Symbol dafür, daß es außer dem schwankenden Seil, das sich über die Erde spannt und auf dem so viele Ruhelose ihren Weg suchen, noch etwas anderes gab, etwas wie Geborgenheit und Friede, wofür er keinen Namen wußte und nach dem er sich ein Leben lang gesehnt hatte.

Dr. Hostler beschloß, sogleich in den Dom zu gehen, und beeilte sich, den Graben zu überqueren, als er plötzlich einen Stoß in den Kniekehlen verspürte. Der Stoß warf ihn der Länge nach auf den heißen, glatten Asphalt, und ein breites, großes Rad rollte auf seinen Kopf zu. Während er den Geruch von verbranntem Gummi und die gezackten Rillen des Pneus wahrnahm, spürte er weder Entsetzen noch Furcht. Er dachte noch mit einem gewissen Stolz daran, daß hier etwas Eigenartiges, nur für ihn Bestimmtes geschah, und fühlte noch eine Art Neugierde nach der Ursache, die gewiß irgendwo im Verborgenen auf ihn wartete. Dann kam das Dunkel und die Ruhe über ihn.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung