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Digital In Arbeit

Drei Stunden mehr Freiheit

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„Ich habe ein Weib, ich habe ein Kind, nur eines fehlt mir, uni frei zu sein, wie die Vögel sind, nur Zeit.“

Richard D e h nt e 1

„Freizeit ist Freiheit.“ Karl Marx

„Der Kampf um die 45-Stunden-Woche ist ein kultureller Kampf.“

Betriebsrat in einem Stahlwerk

AM MORGEN DES 1. FEBRUAR werden die Fabrikssirenen nicht nur einen neuen Arbeitstag ankünden, sondern auch eine neue Periode, die 45-Stunden-Woche. — Drei Stunden mehr Freiheit, wenn die Gleichung stimmt und Freizeit Freiheit ist und wenn nur eines fehlte, um frei zu sein, wie die Vögel sind, nur Zeit.

Freiheit, die ich meine?

IN DER STADT N. will ich Stunden dieser Freiheit miterleben. Das freie Wochenende vor einer langen Woche der Arbeit. Die Stadt liegt im Bannkreis eines großen Eisenwerkes. Dutzende Dörfer und Siedlungen liegen wie graue Konfetti um die Stadt und um das Werk. Hier atmen die Häuser und die Menschen mit dem Werk. Nur am Wochenende, wenn der Atem des Werkes aussetzt, geht der Atem der Menschen schneller — freier?

VOR DREI STUNDEN hat die letzte Wochenschicht die Werkshallen verlassen. Die Straßen der Stadt sind leer. Die Frauen haben ihre Sonntagseinkäufe erledigt. Die Männer sind noch zu Hause; sicher, um die Zeit des Ueber- gangs vom Werktag zum Feiertag zu genießen. Und wie beim Pesachfest in einem jüdischen Haus fragt sich jeder: „Was unterscheidet diesen Tag Von allen anderen Tagen?"

Sie muß anders sein, die Freizeit in dieser Stadt N. Ich werde bald sehen, sie ist auch anders.

In einem Gasthaüs kündet eine Frau die Wandlung an, die sich gerade vollzieht: „Zwei Liter Weißen. Wenn er die Weinflaschen voll vor .sich stehen:, sieht, Weihten. vielleicht doch, zur;Hause„.." — Fünf SttwdfivJsmte j, he,j ; im selben Gasthaus die vollendete Verwandlung: vom Werktag zum Feiertag. — Gesteckt voll sind die Gasthausräume von Arbeitern, die ihre „Freiheit“ in zahlreichen und vollen Zügen genießen. Der Wirt sagt: „Von mir aus brauchen sie sich nicht vollzusaufen. Ich verdiene genug, wenn sie nur trinken. Aber schmeiße ich sie hinaus, sind sie auf mich böse und verprügeln ihre Familie. Was sollen diese armen Hunde auch mit ihrer freien Zeit anfangen?"

ICH BIN VÖLLIG WACH. Es ist kein Traum, nachdem ich ein Pamphlet gegen den Alkoholismus aus der Zeit des Frühkapitalismus las:

„...ihr Elend treibt sie dazu, ihre spärliche Freizeit in Schnapsbuden zu verbringen, wo sie die Hoffnungslosigkeit ihrer Existenz zu vergessen suchen.“

Ich träume nicht, es ist vollste Wirklichkeit, in diesem Jahr 1959, vier Wochen vor der Verkürzung der gesetzlichen Arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden; an der Schwelle zur Zeit der Automatisation, in der der technische Fortschritt die Arbeitszeit immer mehr in die Flucht schlagen wird, um der Freiheit den Weg zu bahnen?

Es ist Wirklichkeit, wie der Mann neben mir im Gasthaus. — „Es stimmt, ich war Roter- Falken-Führer. Es stimmt, ich habe als Zugsführer im Wehrsport meine Jugendlichen mit Gewalt aus dem Wirtshaus gezerrt, denn ich glaubte, daß sich unser Kampf mit dem Saufen schlecht verträgt. Es stimmt, ich sitze jetzt hier und werde in einer Stunde voll sein. Aber dazwischen — sehen Sie, dazwischen liegt eine ganz schöne Spanne Zeit.“

Wirklichkeit ist auch das einstöckige Haus in der Arbeitersiedlung, das auf ihn wartet, wenn er noch den Weg nach Hause findet; Wirklichkeit war die Zeit, in der er es baute, zwischen der Schutzhaft in Wollersdorf und den kurzen Perioden, in denen er im Werk arbeiten konnte. — „Womit? Mit meinen Händen, mit den Händen meiner Frau, die allein daran arbeitete, wenn ich in Wollersdorf war; mit den Händen meiner Genossen. In den Arbeitspausen hielten wir illegale Zellenbesprechungen ab; kaum, daß wir den Keller gegraben hatten, versteckten wir illegale Flugblätter und Zeitungen darin. Das alles war Wirklichkeit. Aber zwischen der Wirklichkeit die damals war, und der Wirklichkeit, die heute ist, liegt diese Spanne Zeit." — Es sieht hier in der Stadt N. gar nicht nach Zufall aus. daß die 3 5- bis 60jährigen die „Massenbasis des Saufens“ stellen. Schiefgegangene Ideologien hängen als schwerer Ballast an ihnen. „Verlorene Generation" nennen sie sich gerne und haben großes fvlitleid mit sich selbst.

IN DIESER' INDUSTRIESTADT N. ist der Alkoholismus im letzten Jahr gestiegen wie die Quecksilbersäule in einer Julinacht. Der Bierkonsum um 15 Prozent, der Weinkonsum um 25 Prozent; das Weihnachtsfest war ein nie erreichter Rekord im Umsatz der Spirituosen.

„Blutverbrechen sollen die Sensation unserer Periode sein?“ registrierte ein Polizeikommissär in der Stadt N., „davon, gibt es nicht mehr als in den vergangenen Jahren. Die wirkliche Sensation ist das Saufen, mein Herr. Davon gibt es mehr als je zuvor.“

Nicht die Absicht, eine Reportage über den Alkoholismus zu schreiben, führt mich in die Stadt N. Es ist auch nicht der Alko-

holismus die Wurzel dieser Tausende verlorener Wochenende, sondern die Freizeit, weil sie doch nicht zur Freiheit geworden ist, sondern zu einem Loch im Leben, zu einem Vakuum, das ab 1. Februar um drei Stunden größer, tiefer, dunkler werden wird.

UND DOCH GIBT ES DIE „WUNDER VON N.", Menschen, die im Vakuum bauen. Rings um die Industriestadt war schon jahrelang gebaut worden. 15 Kilometer entfernt, in der Kreisstadt, waren Hotels entstanden, Kaufläden, Wohnhäuser und ein Springbrunnen an der Straßengabelung. Aber die Industriestadt N. blieb lange Zeit grau, die Straßen blieben kotig, wie sie der Krieg und die Besatzungszeit gelassen hatten. Wenn man im Auto durch die Stadt fuhr, glaubte man noch 1955, es müsse eine Umfahrung geben, auf der die Konjunktur um N. herumgekommen ist. Aber cfcnn setzte das Wunder von N. ein. Ich spreche hier nicht von den Steuerabschreibbauten der Geschäftsleute, die seither emporgeschossen sind, ich spreche hier von den neuen Häusern entlang der Bahnstraße und an der Peripherie und von den Menschen, die sie bauten. Es sind junge Menschen, die den Mut haben, in dieser Stadt, inmitten von Ehen, die an jedem Zahltag scheitern, zu heiraten, sehr jung zu heiraten; über dem Vakuum, zu dem die Freizeit in der Stadt N. geworden ist, ihr Haus zu bauen. Wenn sie den Grundstein legen, stehen nicht, wie in den dreißiger Jahren, Genossen an ihrer Seite; wenn sie den Keller graben und die erste

Mauer aufziehen, ist es nicht wie damals abgetrotzt einer feindlichen Welt und zugleich Meilenstein auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft, den man — mit vielen anderen — zu gehen glaubte.

Am selben Samstag nachmittag, an dem ich die Wirtshäuser zum Bersten voll fand, begannen zwei Paare, die Keller auszuheben. Sie standen allein auf ihren kleinen Grundstücken, als sie die Spaten ansetzten. Später kamen auf Mopeds einige Freunde und halfen mit. Aber da ist keine Ideologie, an die man sich lehnen kann, wenn man müde ist, keine legale oder illegale „Bewegung“, die einem Kraft und Ausdauer gibt, kein weltanschauliches Ziel, in das man seine Häuser hineinbaut. Da ist heute gar nichts anderes außer der schon fast gefrorenen Erde, dem Baumaterial, von dem jeder Ziegelstein selbst gekommen ist, und man selbst. Das Moped habe ich vergessen. Es steht, an einen Baum gelehnt, vor der Baustelle. Aber am dritten Sonntag ist die Mauer bereits höher als das Moped.

ES WARE NICHT SEHR VIELE, die das Wunder von N. begannen. Aber drei wären damals genug gewesen, als Lot mit dem Erzengel verhandelte. Heute beginnt es, eine Wirklichkeit zu werden — das junge Heiraten und das neue Bauen. Im Gemeindeamt erfuhr ich, daß im vergangenen Jahr 36 Häuser so gebaut wurden. So — das heißt von jungen Menschen im Alter zwischen 20 und 25 Jahren, mit ihren eigenen Händen, mit Ziegeln, die Arbeitsstunden sind, in ihrer Freizeit, die langsam sich zur Freiheit verwandelte.

„Das ist schon ein Abenteuer", sagt er, und er war 21 Jahre alt, als er mit dem Bau beginnt. Sie ist 18, und für sie begann das Abenteuer schon vor einem Jahr, als sie heirateten und für das Haus zu sparen begannen. Aus dem Nähen im Orte N. schaut kein Haus heraus. Aus Fabrikarbeit für Mädchen auch nicht. Sie fuhr nach Wien und arbeitete ein halbes Jahr in einem Espresso. — „Er sagte nein, denn wer nach Wien fährt, kommt nicht mehr nach N. zurück. Besonders nicht aus einem Espresso zu einem Eisendreher im Werk.“ — Aber sie kam zurück, mit genügend Geld, um den Grund zu kaufen. — „Den Bau zahle ich“, meint er.

ALS ICH UM NEUN UHR ABENDS vor die Stadt ging, schlossen die beiden ihren ersten Arbeitstag an ihrem Haus gerade ab. Sie waren sicher müde, aber sie gingen auf einem Umweg entlang des Bahndamms in das Untermietzimmer zurück, das sie bei ihren Eltern hatten. Sie zogen sich um und fuhren mit ihrem Moped zum Tanz ins Kulturheim, wo die anderen schon seit sieben Uhr abends tanzten.

Noch haben die jungen Leute nicht viel, das sie in ihre neuen Häuser stellen können, außer Radio, Plattenspieler und SW-Möbeln. Das ist wenig. Aber drei Stunden Freizeit kommen ab 1. Februar dazu. Vielleicht werden sie das Wichtigste sein in diesen neuen Häusern.

UNZÄHLIGE WEGE gibt es über das lange Wochenende. Zehntausend Menschen wohnen um das Werk, zehntausend Wege gibt es. Ich aber kann hier nur das Bild der Stadt N. fassen, in der Freizeit, die Freiheit sein soll.

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