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Ein Sonntasmorsen im Dom zu Ferrara

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Bn einem der lehrten Monate des zweiten Weltkriegs kamen wir spät nachts in der norditalienischen Stadt Ferrara an. Von der Platzkommandantur wurde uns im Gebetsaal eines alten Klosters ein Strohlager zugewiesen und erklärt, der wachhabende Unteroffizier käme, uns zu wecken, wenn es Zeit sei, an die Front weiterzufahren. Die genaue Linie ihres Verlaufs war unbekannt. Sie näherte sich jedoch der Stadt an einigen Stellen bis auf vierzig Kilometer. Von den Märschen des Vortags ermüdet, schliefen wir bald ein. Bisweilen fiel ein Stahlhelm polternd zu Boden oder ein Karabiner stürzte um, und ein unterdrückter Fluch klang kurz auf. Dann war es wieder still. Einige Urlauber kamen oder gingen ...

Es mochte gegen 7 Uhr sein, als ich wieder erwachte. Irgend etwas fehlte mir an diesem Morgen, was ich aus dem Leben der Kriegsjahre gewöhnt war. Vielleicht der schrille Pfiff eines Unteroffiziers und ein paar derbe Flüche oder einige schmutzige Witze? Ich wußte es nicht.

Mit Ausnahme eines jungen Gefreiten schliefen edle noch. Nur er saß aufrecht am Ende seines Strohsacks und schrieb. Vielleicht einen Brief an seine Braut oder an seine Mutter?

Die Morgensonne fiel durch die hohen Fenster in den Saal; die alten zerschlissenen Tapeten an den Wänden leuchteten ein wenig und schienen sich zu bewegen, leise, als wollten sie etwas sprechen, zögernd, vieles, vieles.

Ich stand auf, während der junge Gefreite einen Augenblick aus seinem Blatt sah und dann weitersdvrieb. Eine Viertel-

Altar, von Bild zu Bild, von Säule zu Säule. Dann kniete ich nieder. Wie lange hatte ich eigentlich nicht mehr gebetet, wirklich gebetet?

Es waren nur wenige Menschen im Dom. Vielleicht pfiff jetzt der Unteroffizier: Aufstehen! Kaffee fassen! Antreten zum Morgenappell! Und draußen donnerten die Geschütze ... Immer dasselbe: Abschuß ... Einschlag ... Ab schuß ... Einschlag ... Dominus vobis- cum...

Vor mir hing ein großes Kreuz. Durai die hohen Domfenster fiel die Sonne darauf. Mir war, als lächle Er ein wenig zu uns herab, den wir wieder an das schwere Eichenholz genagelt hatten. Lautlos schritten einige Mönche aus ihren Chorstühlen zu einer Sakristeitür hinüber und verschwanden.

Vor einem Seitenaltar, abseits der Betenden, kniete' ein einfacher Soldat, verstaubt, braungebrannt von der Frühjahrssonne Italiens. Sein Blick wanderte durch das vom Morgenlicht verklärte Hell und Dunkel der Gewölbe. Langsam schwangen die letzten Klänge der Orgel aus. Dann war es still; nur die gedämpfte Stimme des zelebrierenden Priesters drang noch vom Hauptaltar durch das Dominnere.

Der fremde Soldat vergrub sein Antlitz in die Hände. Als er es wieder erhob, sah ich, daß einige Tränen in seinen Augen standen. Ich weiß nicht, was mich in jener Stunde trieb, die Einsamkeit eines Menschen zu stören, als ich zu ihm trat und die Hand auf seine Schulter legte. Einige Sekunden sah er mich traurig an, dann fiel sein Blick kurz zu Boden, und er murmelte etwas vor sich hin. Ich verstand es nicht, aber es muß eine Frage gewesen sein. Ich vernahm nur das letzte Wort: „Menschen?..

Dann blickte er an miir vorbei durch den weiten Raum des Doms, in dem der Atėm vergangener Jahrhunderte geheimnisvoll im Farbenspiel der Morgensonne leuchtete. Durch die schmalen hohen Kirchenfenster drang das tiefe Blau des italienischen Frühjahrshimmels in die Gewölbe und tanzte mit dem Schatten über ihnen.

Plötzlich wurde ich in meinem Sinnen unterbrochen; denn der Soldat sprach mich leise und zögernd än: „Du, Kamerad. — Hörst du; ich war vier Jahre im Krieg, vier Jahre immer vorn im Graben. Mein Vater und meine Mutter sind bei einem Bombenangriff verschüttet worden, und mein Bruder fiel... und die ändern ... vier Jahre ... Du, Kamerad, weißt du noch, wie das .Vaterunser' geht?"

Ich nahm die Hand von seiner Schulter und schwieg zuerst. Dann begann ich langsam die Worte mit ihm zu sprechen: „Vater unser, der Du bist Im Himmel, geheiligt werde Dein Name, zu uns komme Dein Reich,

Dein Wille geschehe ...“

Da begann der Soldat mit einemmal wie ein Kind zu weinen. Schweigend ließ ich ihn allein, denn ich fühlte, daß ich kein Recht hätte, in dieser Stunde länger bei ihm zu bleiben.

Die Orgel begann wieder zu spielen, als ich niederkniete. Und dann kamen auch die Mönche zurück, lautlos, wie sie gegangen waren; und der Priester las die Messe zu Ende.

Lange noch blieb ich im Dom; die Orgel musizierte weiter; und es waren wieder die Klänge Johann Sebastians. Nachher fingen auch die Glocken über Ferrara zu läuten an. Ich holte mein kleines Kalen-, derbuch aus der Uniformjacke und blätterte darin. — Es war Sonntag; ich hatte es nicht gewußt; wir waren tagelang zeitlos ins Nichts marschiert und gefahren.

Als ich das Gotteshaus verließ, brandete mir der Lärm der Straße entgegen. Autos hupten, Motoren knatterten. Der Marschtritt vorbeiziehender Truppen, das Schreien und Hasten geängsteter, ruheloser Menschen rissen mich im Taumel mit sich fort...

Die Glocken läuteten noch immer friedlich über das sonntägige Land. Nur manchmal zerfetzte ein Aufheulen das Wehen ihrer Klänge. Das kam von draußen, vierzig Kilometer weiter südlich, wohin wir zogen, wo Menschen starben und bluteten ...

„Du, Kamerad, weißt du noch, wie das .Vaterunser' geht?"

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