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Er ist bei Der Sitzung

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„Bedaure, er ist bei der Sitzung!“ — „Wie lange wird das dauern?“ — „Ganz ungewiß!“ — Eine Stunde später meldet sich wieder die Sekretärin am Telephon: „Bedaure, er ist noch bei der Sitzung!“ Du versuchst nun dein Glück bei seinem Kollegen, gelangst mittels einiger Geschicklichkeit im Umgang mit dem Halloappärat direkt ins Chefzimmer, hast also kühn die Hürden des Vorzimmers und des Sekretariats übersprungen. Eine sonore Stimme antwortet dir aus der Muschel: „Bedaure, gerade heute geht es nicht. Sitzung. Sie wissen ja!“

Obwohl du es weißt, gehst du es am nächsten Tag mit dem ganzen Gewicht deiner wirtschaftswunderlichen körperlichen Existenz an. Du gehst ins Amt. Die Sekretärin empfängt dich mit dem freundlichsten Make-up: „Bedaure, dringende Sitzung heute. Sie wissen ja!" Du fragst dich, wie oft sie das Sprüchlein heute wohl schon gesagt haben mag: Dringende Sitzung. Sie wissen ja.

Und wirklich'. Wenn du die Äugen auf machst und dir die Sehkraft noch nicht durch den Wüt- uncl'Blutandrang Vernommen 'Ist, findest du die gepolsterte Doppeltüre mit der unabänderlichen Tafel: „Sitzung. Keine Störung!“ Ein Rotlicht warnt den Unbefugten.

Was ist nur in uns Männer gefahren? Ich weiß es, du weißt es, wir alle wissen es. Wir leiden unter den Sitzungen. Leiden. Manche nennen den Trieb, in Sitzungen zu sitzen und lange sitzenzubleiben, eine Krankheit. Wir sind vom Sitzungsbazillus befallen. Wer von uns noch gesund zu sein vorgibt, der ist gewiß schon Bazillenträger. Der Bazillus wird bereits von Psychologen, Testern, Soziologen und Medizinern in langwierigen Sitzungen untersucht. Seine verheerende Wirkung auf das gesellschaftliche, eheliche und familiäre Leben ist erforscht. Wenn ein Mann bei einer Sitzung ist, dann sitzt er gut seine zwei bis drei Stunden. Es soll vorkommen, daß eine Tagung — die erweiterte Form der Sitzung — unversehens zur Nächtigung, eine „Tages“-Ordnung zur „Nacht“-Ordnung geworden ist. Wenn wir Männer sitzen, dann sind wir hermetisch gegen die Außenwelt abgeschlossen. Ein Glas Wasser, ein frisch gespitzter Bleistift, einige Bogen Schreibpapier DIN-A 4 genügen. Oh, wir sind genügsam! Das Sitzfleisch gedeiht vortrefflich.

Als einzelne, bei der Zureise im Schnellzug, sind wir durchaus verständige Männer. Betreten wir aber das Sitzungszimmer, wird aus uns das unfaßbare schreckliche „Ding“, das viele Köpfe hat, viele sprechlüsterne Münder, aber wenig Hirn. Das „Ding“ macht sich und anderen das Leben schwer. Es kommt rasch von der „Sache“ ab, weshalb Zurufe wie „Zur Sache“, „Zur Geschäftsordnung“ an der Tagesordnung sind. Wie Fieber durch Schweiß sich erleichtert, so der Sitzungsteilnehmer durch seine Wortmeldung. „Ich bitte ums Wort!“ ist das Höchste der Sitzungsgefühle. Es kommt freilich nicht gar zu häufig vor, daß der Wortmelder „Zur Sache“ spricht. Auf alle Fälle will er aber ein todsicheres Rezept wissen, die Sache, ja die unglückliche Welt zu retten.

Der schlichte Bürger wird samt seinen Pantoffeln ausgezogen, er verwandelt sich in einen Cicero, einen Bevollmächtigten, einen Vorsitzenden oder einen stellvertretenden Vorsitzenden. Das benimmt dem Manne den Atem. Ihr müßt das verstehen. Er meldet sich zum Wort und kommt zu Wort. Er kann Anträge zu Anträgen stellen, kann verlangen, daß Anträge getrennt oder zusammengefaßt werden. Er kann durch Zuruf die Rede des anderen unterbrechen, er kann zischen, scharren, klatschen, murmeln und pfeifen. Vierzig Männer hören ihm zu, wenn sie ihm zuhören. Nicken mit hochroten Köpfen, rufen zuweilen „Hört! Hört!“. Die Glocke des Präsidenten ertönt. Es wird ein Antrag über den Antrag zum Antrag beantragt. Abstimmung. Wir erreichen den Höhepunkt der Sitzung.

Nach Paragraph 7 Absatz 3 der Satzung muß aber zuerst die Beschlußfähigkeit festgestellt werden. Die Stimmberechtigung einzelner Sitzungsteilnehmer wird angezweifelt. Hitzige Debatte über die Abstimmung. Schließlich Abstimmung über die vom Präsidenten beantragte Abstimmung. Gegenantrag. Dringlichkeitsantrag.

Jawohl, Sitzung ohne Satzung wäre wie ein Steuer ohne Räder. Die verbale Verwandtschaft zwischen Sitzung und Satzung ist nicht von ungefähr. Der ordnungsliebende -'Mann fäÜft" ifiit der Satzung um die Sache herum. Die lehnt schon lange im Schmollwinkel.

Schließlich ist doch die Hälfte der Tagesordnungspunkte durchgepeitscht. Die Männer sind müde. Einer beantragt Schluß der Debatte und Vertagung der Tagung. Der Antrag wird beifällig angenommen. Die Gelegenheit, dagegen zu sein, ist vorüber. Man legt seine surrealistische Zeichnung in die Sitzungsmappe und wird wieder einzeln. Das unfaßbare, schreckliche „Ding“ löst sich auf. Bis morgen. Und übermorgen.

Von drei Berufstätigen sind zwei Männer. Und diese befinden sich zumeist bei Sitzungen. Es muß sich da wohl um eine vorwiegend männliche Erkrankung handeln. In die heiligen Hallen einer Sitzung hat die gleichgeschaltete Frau noch wenig Zutritt. Ich denke, sie hätte ihn. Aber es ist ihr zu dumm. Trotz der Gleichberechtigung von uns Männern — wir erlernen bereits Babypflege und Kochen — haben wir uns doch einige Reservate vorbehalten: Kaserne, Fußball, Sitzung.

Liebe Frauen! Wenn ihr euch wie Witwen fühlt, geht in die Sitzung! Stürmt die Bastei! Ihr seid doch sonst nicht so zimperlich. Ihr könnt ihn aus seinen Weltverbesserungsträumen erwecken. Gewiß, es soll zuweilen auch etwas herauskommen bei den Sitzungen. Ich möchte auch nicht an dieser urdemokratischen Einrichtung rütteln. Aber es wird viel Stroh gedroschen. Allzuviel Stroh. Wenn euer Mann mit eurem Willi Eisenbahn spielte oder Raketen zur Küchendecke aufsteigen ließe, seine Zeit wäre wahrlich oft besser genützt gewesen. Stellt das Fieber ab. Ich verrate euch die Fieberskala: Besprechung, Versammlung, General-, Haupt-, Vollversammlung, Sitzung, Tagung, Kongreß, Flohkonferenz, Konferenz, Gipfel- oder Mammutkonferenz. In vornehmen Gegenden: Gespräch.

Rettet die Männer, ihr rettet den Mann! Oder laßt ihr euch das auf die Dauer gefallen? Von Montag bis Montag Sitzung um Sitzung? Mit Ausnahme des Wochenendes. Da ist die Sitzung des „Verbandes für ein sitzungsfreies Wochenende“ ängesetzt. Rettet die Männer, ihr rettet den Mann!

P. S. Natürlich wäre es falsch, würden einige Leser eine Beziehung zu unseren Parlamentariern sehen. Hier wird bewußt nur zum Schein debattiert. Der Beschluß ist schon vorher in fruchtbaren Sitzungen ausgehandelt. Nein, ich möchte sie doch nicht missen: Parlament und Debatte, die weitläufigen Verwandten unserer Sitzung! Lieber Mehrheitsbeschluß: alle tun nichts Böses als „Ich habe mich entschlossen...“, und einer tut das Böse.

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