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Erinnerung

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Du hast dich wachgerufen, du willst leben, obzwar ich dich nirgends mehr finde und nichts von deiner Gegenwart weiß- Ein geheimnisvoller Strahl sucht dich im Gewühl der Großstädte Europat, in den Elendsvierteln, auf den Friedhöfen: nirgends deine Gestalt, nirgends dein Name. Dennoch warst du bei mir und so nahe, daß alles andere, was um mich geschah, ausgelöscht war. Laß mich nachdenken, laß mich alles langsam wiederholen ...

Das ist es: das Geheimnis der Erinnerung: ein Mensch erwacht in einem innern Augenblick, während wir außen in einem anderen Raum leben. Aber meine berichtenden Worte können weder die Freiheit des Raumes noch der Zeit wiedergeben- Trotzdem will ich es versuchen, diese innere Szene mit meinen erbärmlichen Mitteln zu beschwören und dich (gewagtes doch forderndes Wortl) zu retten.

Vergangenen Sonntag war es, daß mich eine Einladung zu einem musikalischen Abend bei Freunden vor der trostlosen Verlorenheit eines Feiertags bewahrte. Da saß ich also bequem in einem sauberen Zimmer, in der Nähe eines wohltemperierten Ofens. Der weißgedeckte Tisch ließ ein appetitliches Nachtmahl erwarten und im Fenster des Alkovens fand sich im Dunkel ein zwinkerndes Sternlicht.

Wie unwirklich war alle Wirklichkeit da draußen. In dieser familiären Umgebung schien alles aufgehoben, alles auf das friedliche Beisammensein von Menschen abgestimmt. Einige Bücher standen in der Nähe, schmale, besondere Bände,- daneben der Plattenspieler und in Mappen eine seltene Sehallplatten-sammlung klassischer Musik.

Diesmal die Neunte (für uns war das selbstverständlich die von Beethoven). Wir rückten die Stühle zurecht, jeder wählte die ihm gemäßeste Stellung. Der Hausherr putzte die schwarzglänzenden Platten, spitzte die Nadel, setzte auf — ein leises Kreischen und die Musik erwachte raumlebendig.

Es ging leise und noch ein wenig undeutlich durch mich, während die bekannten Themen sich meinem Körper mitteilten und ihn bewegten, öffnete ich die Augen, so sah ich gegenüber das angespannte Gesicht des Freundes, der immer bereit sein mußte, den Apparat zu bedienen, seine Frau, traumverloren geneigt, im Alkovendunkel...

Schloß ich wieder die Augen, drangen die Töne tiefer ein, ein paar Takte paukten und wirbelten wie in mir, um bald durch irgendeinen undeutlichen Gedanken verdrängt zu werden und mich nur peripher zu umgeben.

Da setzte das Geigenthema des dritten Satzes ein und wie ein berühmtes Zitat sang ich es mit. Die schluchzende und doch selige Erhörung dieser Melodie sang — und plötzlich war es nicht mehr das Grammophon, nicht mehr die Geige, nicht mehr ich — da war eine Stimme und einer stand neben mir, wild die Arme schwenkend. Ich sah schärfer hin, erkannte ihn und nannte mir flüsternd seinen Namen: das ist ja Barna, der Barna ... Aber da war keine Zeit zur Überlegung. Er versuchte, die Geige nachahmend, mich für die Schönheit des Themas zu begeistern, Mitten in unserem Speisezimmer tänzelte er herum, wirbelte, krähte, jauchzte die Melodie. Armer, begeisterter Barna!

Mittags war er mit der schweren Aktentasche gekommen, wollte ein paar Muster bei meinem Vater anbringen, ein Vertreter, mitleidig als armer Teufel zu Tisch geladen, an den gesicherten Tisch des selbstbewußten Handwerksmeisters, dem er buckelnd zureden und dessen Belehrungen er höflich anhören mußte. Nach dem Essen blieben wir allein und sprachen über alles mögliche) bald zeigte sich, daß wir gleiche Träume hatten...

Wußte ich es damals schon oder erfuhr ich es erst später, daß der höfliche, kleine Vertreter, der vor jeder Saison mit seiner neuen Kollektion erschien und sich so sein Brot verdiente, ein Dichter war? Irgendeinmal hat er es mir gesagt und ich, jung und unerfahren, hatte noch nichts von seiner Bedeutung gehört! Er rezitierte klingende ungarische Verse und brachte ein Blatt mit der Komposition eines Psalms; darauf groß gedruckt! Text von Pil Barna. Ja, da war ich schon sehr betroffen — so weit hatte ich es noch nicht gebracht...

Und da ist er jetzt und singt die Geigenmelodie ganz nah und die Stimme ist so deutlich und sein Gesicht: das geringelte, schon stark ergraute Haar, dessen Strähne er Tnit dem Zeigefinger zu wickeln liebte, die runde Stirn mit den gleichmäßigen Faltenlinien, die scharfe, echmalrückige Nase, der fast lippenlose doch deutliche Mund und das viel zu kleine, zurückweichende Kinn; die Augen irgendwie schillernd, grau-grüni und eine jünglingshafte Beweglichkeit, Begeisterung zu der Armseligkeit meines Klavierspiels.

Er drängte heran und versuchte das Adagiothema. Häßlich und hart gaben die Tasten die Melodie wieder, die uns so selig begeisterte ...

Ich öffnete ein wenig die Augen. Vielleicht hatte ich leicht geschlafen. Das Grammophon hatte ich sicher nicht gehört. Und, als hätte er nur darauf gewartet, rief er mich wieder zurück und erinnerte mich an den Sonntagnachmittag, an das Symphoniekonzert der Neunten, an das dichtgedrängte Stehparterre und unsere berauschte Heimkehr durch die nächtlichen Straßen. Dies alles war so stark, daß ich Licht, Raum, Geruch und Lärm der Szenen wieder empfand.

Aber zu vieles denkt sich und geschieht zugleich. Eine Blitzsekunde genügt, um den Roman eines ganzen Lebens auszulösen, und eine Minute, mit unseren üblichen Uhren gemessen, um alle seine Phasen zu durchleben, so komprimiert und intensiv, daß wir die Gegenwart unseres alltäglichen Lebens nicht fühlen.

Die Geschichte einer Erinnerung, wie Ich sie schreiben wollte, gelingt nicht; zu arm ist meine Sprache und Kunst; mein Ohr, das nach innen lauscht, ist nicht scharf genug. Es blieb vom Erlebnis des Erinnerns kein deutliches Erinnern, nur die Erschütterung und das Wissen davon.

Ich weiß nur noch, daß er nach Budapest gefahren ist und nie wieder kam. Eine ferne Stimme singt das Lied und das Leid eines Dilettanten, und aus dem Gewirr meiner Gefühle und Gedanken sende ich Strahlen nach allen Richtungen, um seine ferne Gegenwart zu suchen in allen Großstädten Europas, in den elendsten Vierteln, auf den Friedhöfen...

Ein Leben, das für mich nur aus einigen Stunden besteht, ohne Kindheit, ohne Ende. Und was weiß ich von Ihm? Nichts als die Tatsache, daß da ein Mensch gewesen ist, wie er zu der und der Zeit ausgesehen hat und daß er für mich verschwunden ist, unauffindbar im Millionengedränge der Städte. Erschüttert fühle ich die Pflicht, ihn darzustellen, wie ein Maler einen Mann porträtiert: streng und ernst, damit sein Dasein verewigt werde. Ja, das Ist meine Arbeit: immer die Geschichte eines Lebens, immer das Einmal, das Jetzt und das Ende — das ewige Thema des Menschen, ües Wortes, des Geistes ...

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