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Fenster zur Welt

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„Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weilt in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen“, läßt Goethe den anderen Bürger beim Osterspaziergang sagen, und der dritte Bürger stimmt ihm zu mit den Worten: „Sie mögen sich die Köpfe spalten, mag alles durcheinandergehn; doch nur zu Hause bleib's beim alten.“ Seither hat sich die Welt völlig verändert, sie ist klein geworden, die „Türkei“ Hegt jetzt sozusagen vor unserer Haustür, jeder Brand, der irgendwo „weit hinten“ ausbricht, kann auch unser Haus in Brand setzen. Es ist nicht nötig, das zu beweisen.

Niemand kann sich mehr der Tatsache verschließen, daß ein Krieg, wo auch immer er ausbricht, den — übrigens nur mühsam aufrecht erhaltenen — Frieden in der ganzen Welt ernsthaft zu bedrohen imstande ist. Und wir alle sind dabei — durch das Fenster zur Welt, unseren Fernsehapparat, blicken wir unmittelbar in die ernsten Gesichter der Staatsmänner, hören wir ihre Beschwörungen und ihre Haßausbrüche, werden wir Zeuge wilder Demonstrationen und der Zerstörungswut einer aufgehetzten Volksmenge, sind wir schließlich mit an der Kriegsfront. Wir hören die Panzer rasseln, die Flugzeuge dröhnen, Maschinengewehre und Maschinenpistolen rattern, wir sehen und hören die Explosionen von Bomben und Granaten und vernehmen gelegentlich sogar das Stöhnen der Opfer, wir besichtigen die Zerstörungen, die der Krieg oder eine andere Katastrophe angerichtet, die Leithen, die sie hinterlassen haben — und all das in unseren Wohnungen, vom bequemen Sessel aus, nicht selten die Zigaretten, den Guglhupf, die Bierflasche griffbereit neben uns.

Unser Zimmer ist plötzlich angefüllt vom Brandgeruch der brennenden Häuser, von „Pulverdampf und Schlachtgetümmel“ oder „nur" vom Rauschen der Wasserfluten, die

ganze Landstriche überschwemmen. Und unsere Hand, die nach dem Glas greifen will, erstarrt, der Bissen bliebt uns im Halse stecken, wir vergessen, an der Zigarette zu ziehen — hoffen wir, daß es so ist, sonst wäre die Wirkung der schreck- Hchen Bilder gleich Null Hoffen wir, daß das Sensationsbedürfnis erheblich geringer ist als die Anteilnahme, das Mitleiden, man müßte sonst am technischen Fortschritt verzweifeln.

Man mag die Tatsache bedauern, daß wir durch unsere Fernsehapparate an dem Weltgeschehen unmittelbar teilnehmen, ja, uns ihm nicht entziehen können und die Suggestivkraft der Bilder auf uns einwirken lassen müssen, ändern können wir daran nichts. Das ist jedoch nur die eine Seite des Phänomens Fernsehen. Die andere — und vielleicht wichtigere, wenn man will, auch tröstlichere — Seite ist die ebenso unbestreitbare Tatsache, daß wir den Krieg, die Krisen, die Katastrophen nicht nur aus nächster Nähe miterleben, sondern auch zugleich dazu aufgerufen werden, zu ihrer Beseitigung oder Linderung beizutragen, sei es durch aktive Hilfe zum Wiederaufbau zerstörter Gebiete, durch Blutspenden oder auch nur durch Geld. „Belieb es euch, mich anzuschauen, und seht und mildert meine Not!“ singt der Bettler im Osterspaziergang vor den Bürgern, die so genußvoll vom Krieg in f ernen Landen schwätzen.

Der oft gelästerte mechanische Druck auf die Einstelltaste des Fernsehapparates, der oft zitierte Drang, ihn zu betätigen, haben auch etwas Gutes. Der Mensch gerät, ob er wiU oder nicht, in den Sog des Geschehens, er wind mit den bestürzend schlechten Zuständen auf unserem Planeten konfrontiert, in seinem eigenen Heim, in seiner privaten Sphäre. Die Gewißheit, daß das Unglück unteilbar, das Unheil ihn selber treffen kann, trägt zweifellos dazu bei. Der Krieg ist nicht der Vater aller Dinge, aber er kann lehrreich, ja, sogar heilsam sein, wenn er uns ins Haus geliefert wird.

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