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FUNDE UND VERLUSTE

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Allmonatlich, zumindest aber alle halben Jahre, kann man in der Lokalchronik der Zeitung nachlesen, wie viele und vor allem welch unglaubliche Objekte im örtlichen Fundbüro abgegeben wurden. Und neben dem erhebenden Gefühl, daß man doch viel ehrlichere Mitmenschen hat als man normalerweise annimmt, macht sich eine noch tiefere Verwunderung über die verlorenen Gegenstände bemerkbar. Denn außer den Dutzenden und Hunderten von Regenschirmen, Aktenmappen, Brillen und Brieftaschen verzeichnet die Fundamtschronik stets noch eine Reihe höchst ungewöhnlicher Dinge und Lebewesen.

Da werden Totenköpfe verloren und lebende Hyänen gefunden, irgend jemand ging eines Teppichs von vier mal sechs Meter verlustig (vermutlich aus der Rocktasche geschlüpft), dafür brachte ęin anderer glücklicher Finder drei Klistierspritzen auf die Polizeistube. Kleine Buben finden falsche Gebisse, alte Damen finden Indianerausrüstungen. Und es soll auch schon vorgekommen sein, daß ehrliche Finder ihren eigenen Schlüsselbund getreulich abgäben.

Nun verzeichnet aber die monatliche Fundamtsstatistik nur die Funde eines einzigen Monats und verschweigt, wieviel Überhang noch von früheren Monaten vorhanden ist. Wer jemals die Gelegenheit hatte, ein Fundbüro zu besuchen, weiß, welche Unzahl von Gegenständen hier zu finden ist: Kisten voll Schlüsselbunde, dicke Bündel von Schirmen, Handschuhe und Hüte aller Größen, Farben und Qualitäten, Photoapparate in jeder Preislage. Und das sind nur jene Fundgegenstände, die von ihren rechtmäßigen Besitzern nicht reklamiert wurdau!

Da man aber auch noch annehnjen muß, daß es vereinzelte unredliche Finder gibt, kommt man auf diese Weise zu einer unglaublich hohen Zahl von Verlusten aller Art. Wobei hier ausdrücklich nur die Rede von konkreten Gegenständen ist und nicht von Herzen, die in Heidelberg, öder von Köpfen, die an allen Ecken verloren. werden. Auch die Gegenstände, die man verlegt und selbst wiedergefunden hat öder die Nachbarn und Bekannte wiedergebracht haben, sind nicht inbegriffen.

Von Sigmund Freud wissen wir, daß man mit Vorliebe Gegenstände zu verlieren pflegt, die man eigentlich nicht haben will. Vom Fundamt :erlahren wir, daß das nur sehr bedingt richtig ist. Bei manchem schmierigen Hut und zerfetzten Regenschirm drängt sich freilich der Verdacht auf, hier habe es sich weniger um einen ehrlichen Verlust, als um eine Art von „Kindesweglegung” gehandelt. Selbst bei falschen Gebissen mag man unterbewußte Abwehr- empflndungen gelten lassen, obzwar das Wachbewußtsein bei der nächsten Mahlzeit sicher sehr ungehalten war. Aber gegen eine Brieftasche voll Banknoten, gegen eine goldene Armbanduhr oder gegen eine Kleinbildkamera mit Schlitzverschluß hegt der Besitzer wohl nur selten eine tiefverwurzelte geheime Abneigung.

Witzblätter behaupten seit Jahrhunderten, daß zerstreute Professoren all ihr Hab und GUt bei jeder unpassenden Gelegenheit verlieren — vielleicht weil sie, wie die Weisen des Altertums, all das Ihre hei sich tragen. Aber es können .unmöglich diese liebenswerten, würdigen und halb ausgestorbenen Herren allein sein, die all die Tausende von Schlüsseln, Handschuhen und Hüten liegenlassen — ganz zu schweigen von den Luftmatratzen, den Rock-’n -Roll-Platten und den Babyausstattungen.

Nein, die Verlustträger sind Menschen wie Sie und ich. Nicht nur wie Sie und ich, sondern wohl auch ganz konkret: Sie und ich.

Erstaunlicherweise ist es bei den Findern offenbar anders. Denn fast jeder Mensch hat sdion einmal oder mehrmals einen Gegenstand von einigem Wert verloren — aber gefunden? Vielleicht gibt es hauptberufliche Finder, die im Vertrauen auf das Bibelwort „Suchet und ihr werdet finden” ernstlich glauben, daß dieses Wort auf jene Menschen gemünzt war, die mit stets gesenktem Blick die Gehsteige der Großstadtstraßen abgrasen.

Verluste und Funde tragen in unser geregeltes Leben ganz unvermittelt jenes Glücksspielmoment hinein, das wir sonst mit Hilfe von Klassenlosen und Totowürfel zu erreichen suchen. Aber während ein Lotteriegewinn steuerfrei ausbezahlt wird, lehnt sich gegen Fundverheimlichung das Strafgesetzbuch auf — und zumeist auch das Gewissen des Finders. Und so bleibt von dem jähen Schreck- beziehungsweise Glücksgefühl des Verlustträgers beziehungsweise Finders selten mehr als Ärger auf beiden Seiten. Hier wegen des Verlustes, dort wegen der Gewissensbisse und des Weges zur Polizei.

Was übrigens das Gefühl anlangt, so ist hier der Gefühlwerte von verlorenen Gegenständen zu gedenken — und damit auch jenes Inserates in einer schottischen Zeitung, das da lautete: „Brieftasche mit Photographien und fünf Pfund verloren. Hoher Gefühlswert.” Worauf der Verlustträger vom Finder die anonyme Zuschrift erhielt: „Ich bin ein Gefühlsmensch.”

Zumeist aber läßt der Zahn der Zeit, wie es in , der Stilblüte so schön heißt, auch über die Wunden peinlicher Verluste Gras wachsen, und wer klug ist, hat bei Shakespeare gelesen: „Kein Weiser jammert um Verlust, er sucht mit freud’gem Mut, ihn zu ersetzen.”

Wer aber wirklich vernünftig ist, der geht aufs Fundbüro. Auf die Gefahr hin, daß die zahllosen redlichen Finder gerade für ihn nichts abgegeben haben. Denn zwischen der Symmetrie der Funde und Verluste steht eben zuweilen immer noch die menschliche Unzulänglichkeit.

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