6773248-1969_11_12.jpg
Digital In Arbeit

Hände an die Hosennaht

19451960198020002020

Daß unsere Wirklichkeiten ungleich und unbeständig sind, wird kaum noch angezweifelt, denn Tatsachen bedeuten längst nicht mehr soviel wie einst. Die Fakten, mit denen wir förmlich zugedeckt werden, schüren nur unser Mißtrauen gegen sie, provozieren Fragen. Je genauer und handgreiflicher ein Bericht, desto unklarer die Ursachen, die zu den Tatsachen geführt haben mögen. Was fesselt, sind die Perspektiven. Welches Bewußtsein reagiert, auf was, wie es reagiert, was wirklich geschehen ist, wenn etwas geschehen ist. Mit Beschreibung kann da nur wenig erreicht werden, selbst wenn, wie in diesem Buch, Erinnern, Besinnen zu einer Energie des Erinnerns wird, zu andauernder Bewegung, entwerfend, ändernd, widerrufend. „Laß mich in Ruhe mit Protokollen“, heißt es denn auch an einer Stelle. „Die Form muß schwanken, alles muß schwanken...“ Und da der Bericht schon weit über die Hälfte gediehen ist, gesteht der sich Erinnernde: „Ich merke nur, daß nichts zu Ende geht, nichts aufhört, ich möchte alles noch einmal erzählen, anders... zuviel wartet noch.“

19451960198020002020

Daß unsere Wirklichkeiten ungleich und unbeständig sind, wird kaum noch angezweifelt, denn Tatsachen bedeuten längst nicht mehr soviel wie einst. Die Fakten, mit denen wir förmlich zugedeckt werden, schüren nur unser Mißtrauen gegen sie, provozieren Fragen. Je genauer und handgreiflicher ein Bericht, desto unklarer die Ursachen, die zu den Tatsachen geführt haben mögen. Was fesselt, sind die Perspektiven. Welches Bewußtsein reagiert, auf was, wie es reagiert, was wirklich geschehen ist, wenn etwas geschehen ist. Mit Beschreibung kann da nur wenig erreicht werden, selbst wenn, wie in diesem Buch, Erinnern, Besinnen zu einer Energie des Erinnerns wird, zu andauernder Bewegung, entwerfend, ändernd, widerrufend. „Laß mich in Ruhe mit Protokollen“, heißt es denn auch an einer Stelle. „Die Form muß schwanken, alles muß schwanken...“ Und da der Bericht schon weit über die Hälfte gediehen ist, gesteht der sich Erinnernde: „Ich merke nur, daß nichts zu Ende geht, nichts aufhört, ich möchte alles noch einmal erzählen, anders... zuviel wartet noch.“

Werbung
Werbung
Werbung

Siegfried Lenz, Jahrgang 26, Verfasser von 12 Büchern Epik und einem bühnenwirksamen Schauspiel, weicht In seinem neuen bisher umfangreichsten Roman an die äußerste Peripherie einer „uwbewältigten“, „überwältigendien“ Vergangenheit auis. Nicht das Ungeheuerliche, Unfaßbare, Unvorstellbare jener Schrek-ken sollte (wieder einmal) gebannt und in der Fixierung dingfest gemacht werden. Auf eng umgrenztem Schauplatz, weit entfernt vom Zentrum der Macht, wird dargestellt, wie das Politische die Menschen in jenen Jahren heftig und bitter umtrieb, wie der Terror auf denen baute, die zuließen, sich anpaßte, mitmachten, duldeten.

Lenz schuf sich als Hauptgestalt des Buches den Ich-Erzähler Siggi Jepsen, 20j ährig, Zögling einer Anstalt für Schwererziehbare. In der Deutschstunde hat die Klasse einen Aufsatz über das Thema „Die Freuden der Pflicht“ zu schreiben. Siggi fällt dazu so viel ein, daß er aufgibt und ein leeres Aufsatzheft abliefert. Zur Strafe soll der junge Schwierige in abgeschiedener Zelle den Aufsatz über die Pflicht nachschreiben; daraus entsteht in: etwa>eAi} jährigen},, freiwilligen Nachsitzen die t Ge-( schichte einer Kindheit; einer Länd'-chaft,

Da ist RUgbüll („mein Rugbüll), nördlichstes Schleswig. Dort tat Sig-gis Vater, Jens Ole Jepsen, der .nördlichste Polizeiposten Deutschlands“, Dienst. „Nie vergaß er seinen Auftrag. Bei jedem Wetter und in jeder Jahreszeit, in Krieg und Frieden, schwang er sich auf sein Fahrrad und strampelte mit flatterndem Umhang, eine bekannte Erscheinung, in die Sackgasse seiner Mission.“ Von diesem Bild, von dieser Gestalt, der Verkörperung deutscher Pflichterfüllung, ausgehend, tastet sich Siggi die Kette der Erinnerungen entlang immer näher an die Vergangenheit heran — hier zu sein in der Zelle und zugleich dort im Elternhaus, im Reich der Kindheit. Je mehr die Abneigung gegen den Polizeimann Jepsen in ihm zunimmt, um so seltener nennt er ihn in seinem Bericht „Vater“, ihn, der so gern den Stock auf das nackte Gesäß Siggis herabsausen ließ und der es allerwege mit dem Wahlspruch hielt: Brauchbare Menschen müssen sich fügen. Weit öfter heißt es: der Polizeiposten Rugbüll schweigt... oder der Polizeiposten erklärt: „Der Maler hat sich dem Volkstum entfremdet, demgemäß ist er staats-gefährlich und unerwünscht, einfach entartet.“ Ja, das erklärte der Polizeiposten und meinte damit den Maller Max Ludwig Nansen (mit seiner Spuk- und Fabelwelt, den dunklen Naturgeistern und phantastischen Mächten). Die „entarteten“ Espressiondsten Emil Nolde und Ernst Barlach mögen der Figur von fernher Pate gestanden haben. Nansen kam ursprünglich mit seiner Frau aus der Völkischen Bewegung, hatte die Ereignisse 1933 begrüßt, lehnte aber später eine Berufung zum Leiter der Staatlichen Kunstschule mit einem Telegramm ab, das sozusagen Geschichte machte. Aber der Polizeiposten Rugbüll tat noch mehr: Er beschlagnahmte Bilder des Malers, um sie der Behörde zu übergeben, ja er zerstörte und verbrannte sogar welche. Daher die Zwangsvorstellung des Knaben Siggi (der dem Maler in Verehrung anhing), Bilder in Sicherheit bringen zu müssen, was ihn zu Diebstählen verleitete und ihm schließlich die Einweisung in die Strafanstalt für schwererziehbare Jugendliche einbrachte. Er begann den Vater zu hassen, diesen „ewigen Äusführer“, den „tadeffoseVoffl-sfre Bilder „verhaftete“, der ohne Aufgabe „nur ein halber Mensch“ war, dessen Hände, wenn sie herabhingen, immer „bereit an der Hosennaht“ lagen, „zwei gehorsame Wesen ...“. „Es kotzt mich an“, sagte der Maler, „wenn ihr von Pflicht redet. Wenn ihr von Pflicht redet, müssen sich andere auf was gefaßt machen.“ Immer, wenn die beiden aneinandergerieten, stoben die Funken.

Und dann Ist da Siggis Mutter, Gudrun. Jepsen, „die mütterliche Säulenfigur“, eine knochige, harte, hochmütig sich verweigernde, gegen Musik allergische Frau. Erschrek-kend genau ist in ihren Unterhaltungen jener Tonfall getroffen, in dem dieses „An deutschem Wesen soll die Welt genesen“ unüberhörbar mittönt Es geht über den Maler: „Wenn man sich so ansieht, welche Leute er malt: die grünen Gesichter, die mongolischen Augen, diese verwachsenen Körper, all dieses Fremde: da malt doch die Krankheit mit. Ein deutsches Gesicht, das kommt bei ihm nicht vor. — Aber im Ausland ist er gefragt, sagte mein Vater, da gilt er was. — Weil sie selber krank sind, sagte meine Mutter, deshalb umgeben sie sich mit kranken Bildern. Sieh dir nur mal die Münder seiner Leute an, schief und schwarz sind sie... ein besonnenes Wort kommt aus ihnen nicht heraus, zumindest kein deutsches Wort.“ Das Radio gab die Meldung durch, daß „der ehemalige Waffenbruder“ Italien den Krieg erklärt habe: „Also Italien, sagte mein Vater. Im ersten Weltkrieg, sagte er, und jetzt wieder; so sind die Italiener: Tarantella und Pomade im Haar — sonst nix. Wir hätten das wissen müssen.“

Im vorletzten Kapitel, knapp vor der Entlassung, in einer ganz dramatisch gefaßten Szene, wird der Höhepunkt erreicht, auf den hin das Buch komponiert zu sein scheint. „Und wenn Sie wissen wollen, warum ich hier bin...“, zischt Siggi dem verdutzten Anstaltsdirektor und den zufällig anwesenden sieben Jugendpsychologen ins Gesicht, „ ... das kann ich Ihnen sogar sehr genau sagen: Ich bin stellvertretend hier für meinen Alten, den Polizeiposten Rugbüll. Kann sein, daß einige von uns hier wirklich schwer erziehbar sind... Aber —: warum gibt es nicht eine Insel und solche Gebäude für schwer erziehlbare Alte? Haben die so etwas nicht nötig? Weil man sich nicht seihst verurteilen möchte, schickt man andere hierher: die Jungen. Keiner traut sich, dem Polizeiposten Rugbüll eine Entziehungskur zu verordnen; der darf süchtig bleiben und süchtig seine verdammte Pflicht tun.“ — „Ich habe nichts mehr zu sagen“, besinnt sich der Ich-Erzähler .am Eadej „ich hab' nur noch Fragen übrig, die mir.keiner beantwortet.,.. Scheitern ' an . Rugbüll? “ Vielleicht kann man es so nennen.“

So wie sie die kleine Gemeinschaft zerstört haben — so haben sie die große vernichtet. Deutschstunde wird zur Stunde deutscher Selbstdarstellung,, die junge Generation, zur Strafaufgabe über die Freuden der Pflicht verurteilt, klagt die alte an; deren Vergangenheit war es, daß aus den Erziehbaren Schwererziehbare geworden sind, die ihren eigenen Weg aus der Leere erst finden müssen. Der moralische Antrieb des vehementen Erzählers Siegfried Lenz, der inen Höhepunkt in seinem künstlerischen Schaffen erreicht hat, wird hier offenbar.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung