6692339-1962_43_06.jpg
Digital In Arbeit

Im sechsten Jahr

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn in diesen Tagen in der westlichen Presse da und dort kurz vermerkt wird, daß die ungarische Oktoberrevolution des Jahres 1956 bereits sechs volle Jahre zurückliegt, dann erweckt die Erinnerung an jene Tage, welche „die Welt erschütterten“, kaum mehr irgendwelche Emotionen. Dabei gilt die Ungarnfrage bei der Mehrheit der Vereinten Nationen bekanntlich auch heute noch als unerledigt — aber ein prominenter Ungarnflüchtling jener Zeit, der unter anderem mit seiner Chruschtschow-Biographie zur Berühmtheit gelangte György Pälöczi-Horvath, konnte, rückblickend auf die seither vergangenen sechs Jahre, für seine Person folgende Bilanz ziehen: „Wenn uns jemand am Nachmittag des 23. Oktober 1956 gesagt hätte, daß das Leben in Ungarn nach fünf bis sechs Jahren so sein wird, wie es heute ist: wir wären sehr zufrieden gewesen.“

Dieser Mann verbrachte immerhin Jahre in den Gefängnissen Räkosis.

Ein anderer westlicher Beobachter, der für seine gelegentlichen prokommunistischen Neigungen bekannte Labour-Abgeordnete Conny Z i 11 i a-c u s, hat sich in dem in Moskau erscheinenden deutschsprachigen Wochenblatt „Neue Zeit“ etwas vorsichtiger ausgedrückt: „Die Menschen in Ungarn leben heute in besseren Verhältnissen und fühlen sich glücklicher als früher.“ Also doch nur „besser“ und „glücklicher“. Er schreibt weiter: „Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei hat unter Leitung ihres ersten Sekretärs, des Ministerpräsidenten Jänos K ä d ä r, in den letzten Jahren zweifellos außerordentlich viel getan, um das Land von den Verzerrungen der früheren Jahre zu befreien, damit das ungarische Volk sicher auf dem Weg der wahren sozialistischen Demokratie vorwärtsschreiten könne ...“ Diese vorsichtige Formulierung mag durchaus echt und gar nicht allein auf die diplomatische Kunst des Labour-Abgeordneten zurückzuführen se;n. Auch die offiziellen Stellen in Ungarn drücken sieh meistens ähnlich vorsieh'' tig aus. Begeisterung und Superlative sind seit den fünfziger Jahren verpönt: vielleicht die einzige Ausnahme bildeten in den letzten Jahren die sowjetischen Raumflüge: der Begeisterungstaumel in den Zeitungen Ungarns glich jedesmal einem gefühlsmäßigen Dammbruch...

Eine Budapester Zeitung registriert teils mit Bedauern, teils mit Schadenfreude, daß viele westliche Journalisten, die in Ungarn mit der „Wirklichkeit“ konfrontiert werden, über ihre Erfahrungen daheim lieber keinen Bericht schreiben, weil die Wirklichkeit eben nicht mit den negativen Klischeevorstellungen der westlichen Presse übereinstimme. Schweigen ist Gold, meint diese Zeitung, und sie zitiert dann einige besonders naive „Enthüllungen“ westlicher Journalisten, die anscheinend hinter jedem zweiten Konditoreibe$ucher in Ungarn einen Polizeiagenten wittern ...

Kann man während einer kurzen Reise in einem fremden Land hinter die Kulissen blicken? Und spricht nicht aus den Worten des Emigranten, sofern sie authentisch sind, vielmehr die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, als das nüchterne Urteil eines unbestechlichen Beobachters? Auf diese Fragen kann man nicht in der Aufzählung von weiteren Reiseimpressionen, sondern einerseits nur in der Analyse von Regierungshandlungen, anderseits in den Zeugnissen einheimischer Zeitgenossen die richtige Antwort finden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung