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JERUSALEM

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Der untenstehende Bericht eines mit den Verhältnissen Vertrauten erreichte uns am Anfang der

Karwoche. Wir glauben, die harten Tatsachen seines Inhaltes nicht verschweigen zu dürfen.

Es mag sein, daß Erwartung und Enttäuschung hart nebeneinander liegen. Insofern besteht die Gefahr, daß ein mit heiligsten Erwartungen erfüllter Mensch irgendwie enttäuscht wird, wenn er im arabischen Alltag des heutigen Jerusalem statt der erhofften Oelbergstimmung den krämerischen Geschäftsbetrieb einer gut geölten Fremdenindustrie findet. Es ist ja vollkommen klar, daß die Heilige Stadt all die Hoffnungen, die zehntausende Pilger in sich tragen, in ihrer mannigfachen Vielfalt gar nicht erfüllen kann.

Für den mohammedanischen Araber ist etwa der Handel mit Devotionalien (die er neben Wäsche und Nylonstrümpfen verkauft) ein Geschäft wie jedes andere auch, nur eben etwas lukrativer, da fromme Leute — noch dazu landės- und währungsunkundig£ Ausländer,, —, im allgemeinen nicht zu handflp verstehen, Sie würden es — seltsamerweise! — für fast vermessen halten, um einen Rosenkranz zu feilschen und für (garantiert echte) Blumen vom Oelberg nur den halben Preis zu bezahlen.

Biblischen Bilderbüchern entsprungene Gestalten, die in ihrem malerischen Gehaben alttestamentarisch zu sein scheinen, aber trotzdem in modernen Währungen verblüffend genau Bescheid wissen, schlagen in vielen Sprachen — Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Türkisch und Arabisch — Kapital aus der Frömmigkeit ahnungsloser Pilger. Golgotha, der Litho- strotos, das Tal Josaphat, die Stelle der Todesangst und die Höhe des Oelberges scheinen mit einem Male aus der idyllischen Ferne weltentrückter Betrachtung in eine rauhe Wirklichkeit gezerrt, in deren hartem Wind unsere blaßrosa Illusionen hinweggeweht werden.

Derlei Erkenntnisse sind immer schmerzlich. Hat man uns denn jemals zu erklären versucht, daß auch in Jerusalem Menschen wie du und ich leben, die lieben und hassen, ihrem täglichen Brot nachjagen, sich kleiden, baden und frühstücken wie wir? Haben wir nicht alle insgeheim erwartet, weiße Gestalten wallen zu sehen, die an nichts Irdisches zu denken vermögen und weise ihre wallenden Bärte streichen?

Wenn man es bis jetzt noch nicht wahrhaben wollte, erkennt man mit grausamer Deutlichkeit, daß die Welt, in der wir leben, weder katholisch noch auch rein christlich ist. Statt der „una sancta“, an die man glaubt, trifft man die dynamische Macht des Islam, sieht man „multae insanctae" Kirchen, Schismen und Häresien. Schmerzlich zählt man die Oel- lampen vor dem Heiligen Grab, von denen Ortskundige genau zu berichten wissen, wie viele von den Katholiken, den Orthodoxen, den Kopten und so weiter und so fort mit Oel versorgt und angezündet werden dürfen. Erschütternder religiöser Proporz ...

Während sich von der Vorderseite eine katholische Prozession nähert, singen die Kopten an der Hinterseite, so daß die Disharmonie mit ihren schrillen Mißtönen sich vermengender Melodien jeden Winkel des baufälligen Gebäudes erfüllt. Denn die Grabeskirche wird längst nicht mehr von den Gesetzen der Statik aufrechterhalten, noch auch vom Glauben der rivalisierenden Kirchen, sondern von soliden

Pölzungen, die — längst nicht mehr Provisorium — in Stahl und Beton dem morschen Gemäuer die fehlende Standfestigkeit im Verein mit abstoßender Häßlichkeit zu vermitteln suchen. Alle Versuche, einen würdigen baulichen Rahmen für unser größtes Heiligtum zu schaffen, sind bisher gescheitert. „Es wurde keine Einigung erzielt

Nicht weit davon verläuft die Demarkationslinie, die den Abendmahlsaal von Golgotha mit allen politischen Mitteln unserer modernen Zeit absondert, ihn in israelisches Gebiet — außer Landes — verwiesen hat.

So ist Jerusalem ein Abbild unserer Welt in ihrem krankhaften Streben nach Geltung, Geld und Gewalt. Wundern wir uns darüber?

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