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Kerzen und Weine

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Vor einigen Jahren führte mich mein Weg in ein Städtchen der Slowakei, in das Herz der Weingegend nördlich von dem berühmten Tokaj. Es war eine reizende kleine Stadt, derej. Einwohner noch die alte Nationaltracht beibehalten hatten; es gab hier eine wunderbare alte Kirche, und die Frauen verdienten ihren Ruf, von besonderem Liebreiz zu sein. Der Wein verdiente ebenfalls den Ruf, den er überall in Europa genoß. Dazu kam noch, daß die Leute besonders gastfreundlich waren — ich selbst zumindest .bin niemals gastfreundlicheren Menschen begegnet.

In der kleinen Stadt gab es eine Menge Weinberge, zu denen tiefe Keller gehörten, von denen sich die meisten in dem lehmigen Boden am Fuße des alten baufälligen Kastells befanden. Die metallbeschlagenen schweren Eisentüren verliehen dem Gäßchen ein freundliches Aussehen. Ging ein Fremder vorbei, so wurde er fast immer zu einem kleinen Plausch und einigen Gläschen Wein eingeladen, doch war Vorsicht geboten, hat doch die Weinkeller-Gastfreundlichkeit eigene Gesetze. Solange man in der beruhigenden Gesellschaft der riesenhaften Fässer sitzt, in dem dämmrigen Licht, das von ein oder zwei Kerzen gespendet wird, vor sich eine Platte mit geräuchertem Schinken, grünen Zwiebeln und Roggenbrot, die dazu dienen, die Basis für den Wein zu bilden, ist alles herrlich. Ein Neuling mag sogar darüber staunen, wie gut er das Rebenblut verträgt; sonst wurde er bereits von der Hälfte angeheitert, nun jedoch fühlt er nichts dergleichen. Bricht aber die fröhliche Gesellschaft auf und tritt hinaus unter Gottes Himmelszelt, so beginnt sich in dem Augenblick, da man den ersten Atemzug von der frischen Luft tut, rings um einen plötzlich alles zu drehen. Als ob die Macht des Weines hinter den Sträuchern auf der Lauer gelegen und jetzt gleich einem Wegelagerer vorgestürmt wäre. Man braucht alle Kraft, um sich auf den Füßen zu halten. Und dabei ist es ein weiter Weg von der Hälfte des gewundenen Pfades bis hinunter zum Städtchen!

Ich wurde bereits am ersten Abend gar herzlich eingeladen und in einen der Weinkeller mitgenommen. Mein Gastgeber war ein Mann mittleren Alters mit einem aufgezwirbelten Schnurrbart und mit lustigen Augen. Wir setzten uns, aßen und tranken. Mein sehr freigiebiger Gastgeber brachte verschiedene Jahrgänge — den Sechsjährigen und später den Zehnjährigen.

„Wie war der Wein dieses Jahr?“ fragte ich.

„Eine halbe Kerze“, antwortete mein Gastgeber. ,

Das war eine verblüffende Antwort, doch schämte ich mich, meine Unwissenheit einzugestehen und nickte nur. Etwas später fragte ich:

„Und wie war die vorjährige Weinlese?“

„Nicht besonders. Eine Kerze.“

Ich hatte das Gefühl, ich dürfte die Unzulänglichkeit meiner Weinkenntnisse nicht länger verheimlichen.

„Was haben die Kerzen mit Wein zu tun? Wie kann man Kerzen als Maß für Weinjahrgänge anwenden?“

„Das ist sehr einfach“, erklärte mein Gastgeber lächelnd. „Voriges Jahr hatte ich einen Ein-Kerzen-Wein. Das heißt, wenn ich mich hier zum Wein setzte, so brannte die Kerze bis zum Ende ab, ehe ich in der richtigen Stimmung war. Der diesjährige Wein ist viel besser: eine halbe Kerze. Ist die Kerze zur Hälfte abgebrannt, so fühle ich mich bereits restlos glücklich.“

Er stand auf und blinzelte mir zu: „Ich hole etwas von dem Wein vor sieben jähren. Von dem genügt eine Viertelkerze.“

Einzig berechtigte Uebertragung aus dem Englischen von Stefan J. Klein.

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