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Kuriositäten

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Ich bin nicht neugierig, sondern eher altgierig, denn im Alten das Neue zu entdecken, ist mir stets reizvoller erschienen, als im Neuen wieder einmal das Alte zu agnoszieren. Wenn ich auf meinem Spaziergang zu dem großen Hund komme und ihn hinterm Ohr kraue, so weiß ich, daß jetzt aus dem eisgrauen Gezottel seine kaffeebraunen Seelenaugen heraufblicken werden — ich weiß es, und dennoch entzückt es mich stets aufs neue. Trotzdem gibt es Dinge, die auch mich neugierig machen, nämlich solche, an die man schon oft gedacht hat. Ein Kalb mit sechs Beinen lasse ich gut und gern laufen, aber das Goldene Kalb etwa — das wäre für mich eine Kuriosität. Denn an was der Mensch denkt, das will er auch sehen: das ist jener Trieb, der Götzenbilder, aber auch Kuriositäten entstehen läßt. Die schönsten Kuriositäten sind vielleicht die ausgedachten: Adams Nabel; Noahs Oelzweig (getrocknet); ein Stückchen Eis vom Nordpol, ein Stückchen Eis vom Südpol; Diogenes' Tonne; die authentische eherne Schlange; das Ding an sich — schon der Gedanke an solch eine Sammlung erwärmt das Herz. Und weiß ich denn, ob Napoleons Stiefel die echten sind? Es könnten auch die Stiefel von jemand anderem sein; aber dennoch erschauert man, wie vor dem hingepinselten Namen „Corot“, wenn auch das gefälschte Bild darüber eine sentimentale Patzerei ist. Das ist so wie damals, als Amanullah von Afghanistan nach Paris kam, dort in einem Taumel von Festen gefeiert wurde, und nur der alte Clemenceaü leise fragte: „Weiß man denn auch, ob es der richtige ist?“ In jeder Verehrung steckt Neugierde. Die Kuriosität ist die Reliquie der Ungläubigen; aus den Reliquienkammern des Mittelalters wurden die Kuriositätenkabinette der Aufklärung.

Kuriositäten gehen meist auf berühmte Menschen, große Ereignisse und alte Zeiten; treffen diese drei aber zusammen, so haben wir die Sensation ersten Ranges, den Tintenklecks auf der Wartburg. Das nenne ich eine Kuriosität! Luther war am Schreiben, und der Teufel wollte ihn wohl mit Spitzfindigkeiten fangen, doch es gibt in der Polemik wahrlich Momente, wo der schwarze Ge-dankensäft nur noch als Projektil verwendet werden kann: „Na wart, Bürscherl...“ — Bums! Der Teufel verflüchtigte sich, Luther mit der Zeit ebenfalls, allein der Klecks, der Klecks ist geblieben. Wäre ich Wartburg-schüeßer, so würde ich ihn auch mit Pelikantinte erneuern. „Ja, aber“, höre ich einen

Skeptiker murmeln, „weiß man denn auch, ob es der richtige ist?“ Aus dem Skeptiker spricht der Teufel, der den peinlichen Klecks vertuschen will. Nichts da, der Klecks bleibt! Oder vielmehr (da er nicht bleibt): er wird erneuert, damit er bleibt!

Eine todsichere Kuriosität ist Pompeji. Doch die ist wieder so umfangreich, daß man sich selber, im modernen Anzug durch die Straßen promenierend, als die einzige Kuriosität vorkommt. Vielleicht darum trifft einen dort die winzigste Sehenswürdigkeit am stärksten: dort haben nämlich Straßenjungen — antike Straßenjungen — alferhand an die Häuserwand gekritzelt. Ungefähr die lateinische Version von „Fritz ist dof.“ Und das haben die

ausgrabenden Professoren in einem Schauer von Respekt unter angeschraubten Glasplatten geborgen. Wenn man das betrachtet, geniert einen der moderne Anzug nicht mehr. Denn vor uns ersteht die Vision des ewigen Straßenjungen.

Kuriositäten sind meist berühmt, doch es gibt eine enorme, von der doch kaum jemand etwas weiß. Sie steht in Berlin, aber kein Eintrittsgeld wird dich zu ihr-führen. (Berlin, diese uniforme Stadt, ist gerade darum die Stadt der Kuriositäten. Ob Sie 's glauben oder nicht, aber dort waren einst leibhaftig zwei Dinge ausgestellt, die schon in der Bibel vorkommen: das Stadttor von Babylon [Jeremias 51, 58] und „des Satans Stuhl zu Per-gämus“ [Apokalypse 2, 13], nämlich der Per-gamon-Altar.) Vor zwanzig Jahren also besuchte ich einen Bekannten, der in einer großen Druckerei beschäftigt war, und der zeigte mir dort alles. Eine Druckerei ist ja immer unheimlich, so ein Gedanken-Blechwalzwerk ... Schließlich kamen wir in ein leeres Zimmer, da stand an der Seite eine Riesenmaschine, die wollte überhaupt kein Ende nehmen. Ein schwarzes Gebirge von Stahlwälzen, Zahnrädern, Hebeln stand es da und schien wie Von getaner Arbeit auszuruhen. „Sieh mal dieses Biest an“, sagte mein Bekannter: „Das ist die Maschine, die das Inflationsgeld gedruckt hat.“

Dabei erinnerte mich dieses Monstrum an ein anderes, das ich in Petersburg gesehen hatte: ein Mammut mit Haut und Haaren, wie es aus dem sibirischen Eis ausgegraben

wurde. Hätte es auf allen Vieren gestanden, wie. der Elefant im Zoo, wär's nicht so schlimm gewesen, denn ein Mammut ist ein Elefant im Pelz, weiter nichts. Aber npin, das Ding saß, aufrecht auf den Hinterbeinen, den Kopf hoch überm Kronleuchter, und scliien über irgend etwas nachzudenken. Es schien sehr müde; es hatte wahrscheinlich genug.

Ich könnte Ihnen noch von fünftausend Kuriositäten erzählen (z. B. von der eingebeulten Goldtabatiere — eingebeult auf der Stirn des Kaisers Paul von Rußland), doch was soll das? Man vermag aus alledem keine Moral zu ziehen. Außer vielleicht folgende: Wenn Gott die Welt geschaffen hat — und „von selbst“ wird sich das schwerlich gemacht haben —, so ist alles Kuriosität, denn es war einst nicht, und es ist: erschütternder Gedanke. Dieser Gedanke, vielleicht bewirkte die Verbreitung eines Gerüchtes, die Amerikaner hätten auf ihrer Weltausstellung in Chikago als Hauptattraktion einen „Erdglobus in natürlicher Größe“ ausgestellt. Jedenfalls wurde ein bezaubernder Schläger gesungen, bei dessen Refrain alle Negersaxophone mit einem Ruck aufstanden und bliesen, daß ihnen die Backen platzten: „Machines are smart as smart can be / but only God can make a tree.“ (Maschinen können so fein sein wie sie wollen, aber nur Gott vermag einen Baum zu machen.)

Und anderseits: es ist doch, weiß Gott, so vieles banal und langweilig. Aber vor achttausend Jahren lebte König Sargon I. von Sumerien, und ich bitte, sich dieses Datum sorgfältig zu merken. Jede Tuchfaser, jede Andeutung von König Sargon und seinen Sumerern ist jetzt die allergrößte Kuriosität. So blicke umher in deinem Zimmer: nach achttausend Jahren ist das alles unschätzbar. Du selber erregst, nach achttausend Jahren ausgegraben, die größte Neugierde sämtlicher Anwesenden. Darum, keine Minute verpassen und alles gut merken ... Und gerade dieses anwesend-abwesende Gefühl „nach achttausend Jahren“ hatte ich neulich, als ich im Tram fuhr. Eine normale Straßenbahn, aber ich, ich war in die Zukunft umgestiegen. War das kurios! Fast unheimlich. Aus dem Fahrgeld wurde Eintrittsgeld: meine Herrschaften, zum unwiderruflich letzten Male — die sumerische Straßenbahn! Einsteigen, bitte — wer hat noch kein Billett?

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