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Liebe Eltern!

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Endlich habe Ich Gelegenheit, Euch ein Lebenszeichen zu geben. Ob dieser Brief Euch erreichen Wird? Es ist so lange her, daß wir nach Rußland verschleppt wurden. Aber iühlt Ihr nicht, wie oft mein Helmweh und Verlangen bei Euch anklopfen? Wie manchmal schreie ich: „Vergeßt uns nicht! Betet für unsl Helft uns! Wir sind so arm, so verlassen, im tiefsten Elend! Vergeßt uns nicht! Betet für uns!“

Es ist abscheulich, was wir, mit ungefähr 1500 Schwestern, hier durchmachen. Wir werden wie Tiere behandelt, mit Schlägen zur ArbeU gejagt. Wir sind noch' elender als Tiere; denn niemand kümmert sich um uns. Ob wir zusammensacken und tot liegen bleiben, ob ein Wächter uns zu Tode prügelt, es kommt ihm nicht darauf an. Ohne zu sprechen, mit zerschlagenem, mutlosem Herzen, fast stumm, wanken wir zu unserer Arbeit. Und wenn die Arbeit nicht schnell genug geht oder der Wächter schlecht gelaunt ist, dann saust die Peitsche auf uns nieder.

Zuerst haben wir an einer großen Brücke über den Dnjepr gebaut — schwere Männerarbeit. Die Stahlbalken mußten wir schleppen und hoch über den breiten Fluß vorschieben. Wer zusammensackte, kriegte die Peitsche. Wer nicht aufstand, wurde von dorn Wächter ins Wasser getrampelt. Ganze Tage harte Arbeit und kaum mehr zu essen als ein Stück klebriges Brot und dünne Suppe. Viele Mitschwestern sind dabei geblieben, und wir beneiden sie, daß sie tot sind. Uan schauen wir in einer Erzgrube, den ganzen Tag unter der Erde, in stickiger Luit — es sind schon viele gestorben.

Wenn wir nur jemand hätten, der uns Mut machte, uns stützte und uns ein bißchen helfen könnte! Aber wir haben niemand. Wir sind vollkommen verlasser. und vereinsamt. Kein Sonntag, kein Festtag — nur ewig düsterer Werktag. Hunger, Schläge, eine armselige, kalte Baracke, harte Pritsche, ohne Wärme, voll Fäulnis und Ungeziefer, wir selber in Lumpen gehüllt, dazu allzeit schwerste Arbeit und niegestillter Hunger. Wir sind schon keine Menschen mehr.

Ach, liebe Eltern, so wißt Ihr nun, wie hart unser Leben, wie furchtbar unser Elend Ist! Wir tun unser Bestes, den Glauben an Gottes Vorsehung zu bewahren und stets von neuem zu beten: „Ich glaube, ich vertraue!“ Aber es ist so dunkel in der Seele, so tiele Finsternis. Wir sind so einsam und verlassen. Keine geistliche Übung stärkt uns und seit zwei Jahren keine heilige Kommunion mehr! Wir sind verlassen und von jedermann vergessen. Unsere Seele schreit: „Mein Gott, mein Gott, wie hast Du uns verlassenl“

Es ist so schwer, keine Hoffnung zu haben, keinen Stern zu sehen. Mutter, begreifst Du, daß dann die Frage kommt: „Wie kann Gott das zulassen? Warum das alles, wie lange noch?“ Und dann packt uns die Verzweiflung. Mutter, kannst Du Dir solche Qualen vorstellen? Und niemand hilftl Es geht über unsere Kraft. Aber wir empfehlen uns Gott und vertrauen auf seine Vorsehung — trotz allem! Wir alle tragen das Kreuz noch auf unserer Brust, und mitten in aller Not und Verlassenheit nehmen wir unsere Zuflucht zu Ihm, dem wir treu bleiben wollen bis in den Tod. Aber betet doch für uns, betet, betet!

Was wir Jetzt Tag für Tag durchmachen, ist nicht zu beschreiben, und doch glauben wir, daß Gott dieses Leid zuläßt zum Heil unserer Seele. Ich kann Euch nicht alles sagen, wie man uns Frauen hier erniedrigt, uns entehrt und mit Füßen tritt.

Aber unsere Not, unsere Seelennot — nein, ich kann es nicht ausdrücken! Wir haben keinen Fetzen Recht; man geht über uns hinweg; wir sind wehrlos gieriger Willkür ausgeliefert. O diese Nächte, wrin wir trotz aller Müdigkeit keinen Schlaf finden — worin wir schreien — und der Tod wartet allezeit und schleicht uns nachl Ach Mutter, ich will Dir das Herz nicht schwer machen, ich erzähle nur den kleinsten Teill Möge Gott in Gnaden niedersehen auf uns arme, verstoßene, geschundene Schwestern, die trotz allem an Ihn glauben. Ihn lieben und um seinetwillen ausharren in diesem endlosen Sterben.

Euer armes Kind.

(Brief einer deutschen geistlichen Schwester aus Rußland. — Mitgeteilt in der Zeitschrift „De Linie“)

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