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LUBOS POPELKA STIMME AUS BRUNN

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14 Stunden nach dem Einmarsch der Rotarmisten saß in einem Wald bei Brünn ein Unbekannter: er sprach via TV zur Welt — und die Welt hörte ihn zur gleichen Zeit oder ein wenig später; in London, New York, Paris — und in Wien. Seine Worte waren an die Menschen in seinem Nachbarland gerichtet, an seine Kollegen in den österreichischen Fernsehstudios.

Die Eindringlichkeit dieses unrasierten, von den Mühen des Versteckenspiels, wahrscheinlich auch des Abtransports und der technischen Installation der TV- Sendeanlage in einem Übertragungswagen gezeichneten Mannes haben die Welt vielleicht am stärksten aus ihrem Halbschlaf der Nestwärme verträumter Dialoge, unkontrollierbarer Hoffnungen oder einfach der gutmütigen Dummheit gerissen. Denn aus Brünn sprach ein Kommunist — dessen traurige Augen alles über das System und die Macht aussagten, die das Ideal einer gerechten, sozialen, klassenlosen Gesellschaft auf Erden erstrebt:

„Bitte, teilen Sie der Welt mit, was hier in der tschechoslowakischen Republik geschieht. Teilen Sie insbesondere auch der UN und dem Generalsekretär U Thant mit, was wir jetzt erdulden. Ich appelliere an Sie, daß Sie unser kleines Land nicht zugrunde gehen lassen es geht jetzt um alles in der tschechoslowakischen Republik “

In einem schleppenden, schlechten Deutsch formulierte er als Herold seines Volkes über die Wellen des modernen Mediums die Botschaft von der Hoffnung. „Bitte, sagen Sie der Welt, daß ein kleines Volk überwältigt wird,

ein Volk, das nichts wollte, als sein Leben so aufzubauen, wie es selbst wollte “

Die Hoffnung auf die Welt freilich ist das einzige, was den Patrioten an der Moldau, der Donau und der Theiß geblieben ist.

Aber was ist der Sprecher in einem schäbigen Übertragungs wagen bei Brünn schon der Welt wert? Die Einflußsphären haben schon längst das Schicksal der Kleinen den Großen nachgeordnet. Auch wenn die Amerikaner in der Dominikanischen Republik intervenieren, beläßt es die Welt bei papierenen Protesten. So klingt alles falsch und hohl, was den Großmächten in solchen Stunden in den Mund kommt. Sie haben sich über den roten Draht schon beizeiten geeinigt — geeinigt auf Kosten der Kleinen, die den Preis einer Teilung der Welt, den Preis der Unterentwicklung,

der Rüstung und der politischen Systeme zahlen müssen.

Aber dennoch ist dieses kalte Jahrhundert noch erwärmbar. Der Mensch lebt — und die Elektronik bringt sein Gesicht, seine Sprache, ja fast seine Wärme in jedes Haus — und macht das Menschliche unserer Welt wieder sichtbar.

Die Bitte des unbekannten Fernsehsprechers ist erfüllbar. Die Welt weiß, was seit dem 20. August in einem Herzland Mitteleuropas geschehen ist. Die Hoffnung auf Hilfe der Welt ist vergeblich. Die Tschechen sind mit sich selbst und den sowjetischen, polnischen, ungarischen, ostdeutschen und bulgarischen Panzern trostlos allein.

So wurde der Unbekannte aus Brünn zum eigentlichen Symbol. Zum Symbol eines Volkes, dessen Klischee vom verschlagenen, sich duckenden Schwejk zerstört ist.

Dem man bezeugen muß, daß es sich in zäher Ignoranz seiner Macht der Gewaltlosigkeit bewußt wurde. Und vielleicht haben die 14 Millionen Tschechen, Mährer und Slowaken die Demaskierung des Kommunismus klarer vollzogen als ihre Politiker an den Tischen.

Der Unbekannte aus Brünn hat in der Zwischenzeit sein Land verlassen. Seine Sendeanlage ist besetzt, er selbst als einer der ersten über die Grenze gekommen. Von hier aus will er Weiterarbeiten, will freie, unzensu- rierte Information an seine Landsleute weitergeben. Lubos Popelka ist einer der ersten Intellektuellen der CSSR, die die vorläufige Flucht dem Zugriff durch Geheimpolizei und Besatzer vorgezogen haben. Doch Popelka hat nicht vor, Emigrant zu bleiben. Nie, so meint er, könnte er seine Heimat auf immer verlassen.

Der unbekannte Bekannte aus Brünn hofft wie so viele seiner Landsleute auf den erlösenden Kompromiß. Er meint, daß die Sowjets doch noch übe’r den eigenen Schatten springen, daß sie Legalität und das primitive Völkerrecht respektieren.

Hofft er, hofft ein Volk vergebens? Ist die Spur der roten Panzer durch die Städte und Länder Mitteleuropas immer wieder — und immer aufs neue — eine Blutspur?

Ein drittes Kreuz nach Berlins blutigem Sommer 1953 und Budapests kaltem Herbst 1956 richtet sich auf. Und die Welt steht an einer neuen Bahre, deren Träger der Schleier vom Gesicht gezogen ist. Wir sehen die Fratzen, die den Dialog einer Zukunft fragwürdig machen.

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