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Martin

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Eines Abends, während im Westen ein Gewitter heraufdrohte, lehnte er lang und mager am Gartenzaun und blickte mit seinen blauen, scheuen, weltfremden Augen in hündischer Unterwürfigkeit zu mir herüber. Ich fragte, was er wolle. Martin, so hieß er, bat um ein Nachtquartier und um ein wenig für den Weg.

Da bald darauf das Gewitter mit großer Wucht einsetzte, da es bis in die Nacht anhielt, da es in Strömen zu regnen und am Ende leider auch zu hageln begann und meine Gemüsekulturen in einen üblen Zustand versetzt wurden — und da ich allein daheim und nicht in der Stimmung war, einem armen Burschen ein Dach zu verweigern, blieb Martin über Nacht. Ich fragte nach seinem Woher und Wohin. Er war ein Wenderer, unstet, noch jung, hager und scheu, mit kurzgeschnittenem, struppigem Haar und rührend vertretenen Schuhen. Er roch nach Wald und Alpenkräutern und sagte, er habe als Gärtner gelernt, halte es aber nirgends lange aus. Er erzählte, von meinen Fragen bedrängt, stockend ein wenig von seiner Kindheit und

Jugend — das ergab ein Bild von Armut und großer Einsamkeit. — Als er am nächsten Morgen, mit gestammeltem Dank, weiterziehen wollte, stand ich im Garten ziemlich erbittert und verzweifelt vor zerfetzten Paradeiserstauden und entblättertem Kohl. Der Hagel, als eisige, körnige E'ecke, duckte sich noch in den Schattenmulden und duftete höhnisch und kalt. „Das ist freilich ein arger Jammer, lieber Herr!“ sagte da Martin, „das viele Gemüse, die schönen Blumen! Man sieht, Sie haben eine gute Hand dafür. Aber nehmen Sie es sich nicht zu Herzen, es wird wieder gedeihen. Gott hat es so gewollt — Er weiß, was Er tut! Alles hat seinen Sinn durch Ihn.“ Und er sah mich aus großen, blauen, traurigen Augen an.

Ja, dann gruben wir das verheerte Gartenland über und setzten neue Pflanzen ein. Das ging einige Tage, dann wollte Martin weiterziehen. Es waren aber doch die Rosen neu aufzubinden, auch die Wiese hinter dem Haus war zu mähen, das Unkraut aus dem Alpengarten zu jäten. Als dies geschehen war, wollte er gehen. Da aber brauchte das Ruderboot einige neue Rippen, und sein Boden, der leck war, mußte geteert werden, und der Steg brauchte einige neue Bretter und der Zaun einige neue Pfähle. Und Martin besorgte auch dies. Dann aber begann es zu regnen, und es regnete ins Hühnerhaus, und Martin erwies sich als geschickt, auch hier, und erneuerte ein paar Meter vom Schindeldach. Dann aber wurde es schön und heiß, ich erhielt ein Telegramm und mußte in die Stadt, in Geschäften, und derweilen blieb Martin allein daheim und pflegte den Garten und fütterte die Ziegen, Katzen, Kaninchen und Hühner. — Dann aber kam ich zurück und erkannte meinen Garten kaum wieder, so prächtig stand alles darinnen. Und die Ziegen waren sauber gestriegelt und ihre Hufe geschnitten, ihre langen Hornklauen, die es schon längst nötig gehabt hätten. Und es prangte sogar ein neuer Kaninchenstall, ein Prachtexemplar von einem Stall, unter dem Ostvorsprung des Daches, von den Pflaumenbäumen war alles Moos abgekratzt, und um die Stämme waren Baumscheiben angelegt. Die Wege waren mit frischem Kies bestreut und frei von Unkraut, das Boot hatte einen neuen Anstrich erhalten, und Martin hatte ein Schutzdach gegen Sonne und Regen darübergebaut. Und von der Spitze des Hauses wehte eine kleine Fahne, mir zum Willkommgruß. Und da blieb Martin eben bei mir. Wochen gingen hin und Monate. Er war eifrig, fleißig, sauber und treu — kurzum: eine Perle! Meine anderen Gärtnerburschen waren diebisch und faul, unverschämt und verschlagen gewesen. Martin war eine Perle. Mußte ich verreisen, dann ließ ich alles daheim in sicherster Obhut zurück. Kam ich zurück, hatte Martin immer etwas verbessert und erneuert und sah mich scheu aus seinen blauen, weltfremden Augen an, was ich wohl sagen würde! Das ging alles so seine Zeit. Indessen schrieb ich an einem Roman, in dem es sich unter anderem um das Rätsel der menschlichen Seele handelte. Während ich das tat, achtete Martin darauf, daß die Tiere ihr Futter und die Pflanzen im Garten ihr Wasser erhielten und daß es nicht zum Dache hereinzuregnen begann.

Ich unterhielt mich auch öfter mit Martin, über den Garten und seine Pflanzen, über das Getreide, die Hühner, das Wetter und die Ziegen. Aber auch über den Gang der Zeiten, und ob es am Ende bald wieder Krieg geben werde. Nur über sich selbst sprach Martin nicht. Es gebe, sagte er, hierüber nichts zu sagen. Alles sei nicht der Rede wert. Dann ging ich wieder hinauf in das Zimmer mit dem kleinen Erker, wo ich saß und an jenem Roman schrieb, der vom Rätsel der Menschenseele handelte.

Die Zeit verging wie seit eh und je. Mein Roman wurde fertiggeschrieben, er wurde gedruckt und sogar gelesen. Auch schrieben andere über ihn. Manche meinten, es sei ein prächtiges Werk, andere wieder, es sei schade um das Papier, auf dem er gedruckt worden sei, denn es hätte zu Vernünftigerem dienen können. Wenn ich meine eigene Ansicht sagen soll, so lautet diese, daß der Roman wohl nicht ganz mißlungen ist, daß er es aber insofern ist, als er sich mit dem Rätsel der menschlichen Seele beschäftigt. Wieso? Ich will es erklären! Martin war lange Zeit mein Hausgenosse, mein tüchtiger Gärtner, ein treuer Verwalter meines Eigentums, wenn ich in der Stadt sein mußte. Wir schliefen unter dem gleichen Dach und führten lange Gespräche — er hatte einen weltfremden Blick. Er glaubte an Gott. Unter seinen Händen wuchsen die Pflanzen herrlich empor, und die Tiere liebten ihn und kamen zu ihm, wenn er sie rief. Als er ein Huhn schlachten sollte, weigerte er sich, und ich mußte meinen Nachbarn darum bitten. Er war eine Perle. Während all dieser Zeit, da ich ihn sah und beobachtete und mit ihm sprach, schrieb ich vieles, das durchteufelt und hintergründig sein sollte, in meinen Roman, der von der menschlichen Seele handelte. Ein ganzes, dickes Buch wurde es. Man liest es sogar. Aber Martin ist nicht mehr bei mir.

Man hat ihn abgeholt und fortgeführt, ihm den Prozeß gemacht und ihn verurteilt. Er ist ein dreifacher Raubmörder. In den Bergen überfiel er die Leute, erschlug sie und raubte sie aus. Es kann kein Zweifel bestehen. Er war geständig. Man hat ihn von schlauen Psychiatern untersuchen lassen. Sie konnten keine mildernden Umstände für Martin entdecken. Wenn es bei uns die Todesstrafe gäbe, wäre er schon hingerichtet worden.

Er wird nie wieder meine Rosen aufbinden und meine Ziegen melken, kein neues Dach mehr nageln und mein Boot nicht mehr streichen. Nie werde ich ihn wiedersehen. Er ist ein dreifacher Raubmörder. Aber mein Haus und meinen Garten hat er behütet und gepflegt, und die Tiere kamen, wenn er sie rief. Ein Huhn zu schlachten weigerte er sich. Mit diesem Mörder zusammen schlief ich ruhig wie in Abrahams Schoß unter einem Dach. Und dies ist der Grund, warum ich jenes Buch nicht recht empfehlen kann und warum ich nie wieder versuchen werde, etwas Treffendes über die Rätsel der menschlichen Seele zu schreiben. Denn dann fällt mir Martin ein, und ich gebe es auf und überlasse es anderen, denen er nie begegnet ist!

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