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Paris lästert und lacht

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Eigentlich ist den meisten Parisern nicht sehr froh zumute. Der Sommer, der so schön begann, brachte an seinem Höhepunkt Wind und Regen, und die Temperaturen sanken auf elf bis zwölf Grad herab. Man holt die Wintergarderobe aus den Schränken und erinnert sich, daß man Weihnachtstage an der Seine gekannt hat, die wärmer waren als der vergangene August. Und natürlich hat man auch schon eine Erklärung für das Verhalten des launischen Wettergotts gefunden: das Ende der Atomexplosionen in der Atmosphäre ist daran schuld!

Hoffentlich werde man in Washington und Moskau die Lage rechtzeitig erkennen und die Versuche wiederaufnehmen, ehe der Sommer endgültig vorüber ist — Lästert mein alter Freund Maurice und gießt mir zur Erwärmung einen großen Kognak ein. Maurice, der in der Nähe des Pantheons ein gutgehendes Restaurant besitzt, ist schon immer ein Zyniker gewesen, aber seine Sarkasmen hatten nie einen so bitteren und aggressiven Charakter wie jetzt. Selbst im vergangenen Sommer, als noch Autos mit eingebauten Höllenmaschinen in den Straßen von Paris in die Luft flogen und man nachts erschrocken im Bett hochfuhr, weil gerade die naheliegende Wohnung eines linksorientierten Schriftstellers oder gaullistischen Politikers einem Plastikattentat zum Opfer fiel, war Maurice friedlicher und weniger konsequent in seinen Angriffen. Jetzt läßt er weder am Regime noch an den Behörden, weder am britischen Hochadel noch am Scotland Yard, weder an den Amerikanern noch an Soraya oder Farah Diba ein gutes Haar. In seinen Augen regieren Dummheit und Scheinheiligkeit die Welt, und in der allgemeinen Jagd nach dem Mammon machen sich sensationshungrige Journalisten und korrumpierte Fernsehreporter zu ihren willfährigen Dienern…

Fernsehen wird Opfer einer Farce

Es lag deshalb nahe, daß Maurice kürzlich einen makabren Scherz, den sich einige junge Ärzte des Beaujon- Hospitals leisteten und dessen Opfer das französische Fernsehen wurde, durchaus in Ordnung fand. Die einhellige Empörung in der Presse, die den düpierten Kollegen von der Television moralisch beistand, steigerte nur seine Schadenfreude. Folgendes hatte sich ereignet: Durch einen telephonischen Anruf wurde die Sendeleitung des Fernsehens darüber verständigt, daß es der Kunst eines Chirurgen des Beaujon-Hospitals gelungen sei, das Bein eines tödlich Verunglückten einem Amputierten so anzunähen, daß der Blutkreislauf hergestellt werden konnte und der Amputierte mit Hilfe des „übertragenen“ Beines demnächst völlig normal gehen werde. Das Fernsehen könne den Chirurgen und den Frisch-Operierten im Krankenhaus interviewen.

Um mit dieser einmaligen Sensation in der Abendsendung erscheinen zu können, liefen natürlich Reporter und Techniker mit ihren Aufnahmegeräten und Scheinwerfern herbei und wurden vom angeblichen Chirurgen und anderen ernsthaften Herren in weißen Kitteln empfangen. Sie führten den Aufnahmestab zum „Patienten“, der blaß und mitgenommen unter blutbeschmutzten Tüchern lag und bereitwillig sein wunderbares Abenteuer aus der Sicht des Patienten kommentierte. Am Abend wurden Millionen Franzosen vor dem Bildschirm Zeugen eines „umwälzenden medizinischen Ereignisses“. Erst am nächsten Tag wurde die Öffentlichkeit darüber belehrt, daß die ganze Sache eine großangelegte Farce war, die sich eine Gruppe junger Mediziner ausgedacht hatte und die sie dann mit allen Attributen des „Grand Guignol“ (berühmtes Pariser Gruseltheater) — der angebliche Patient war ein mit schauspielerischer Veranlagung bedachter Assistenzarzt — sozusagen „über die Bühne“ brachte. Die Presseempörung kannte keine Grenzen. Man forderte von den Gesundheitsbehörden eine Untersuchung des Falles, die Feststellung der Schuldigen und die Verhängung rigoroser Sanktionen.

Die jungen Mediziner setzten sich zur Wehr und begründeten das abgeschmackte Spiel mit der bewußten Absieht, dem Fernsehen wegen seiner in letzter Zeit geübten „hemmungslosen Sensationsmacherei im chirurgischen Bereich“ einen empfindlichen Denkzettel zu geben. Über Weiterungen und Sanktionen hat man seither nichts gehört. Sie erscheinen auch wegen des herrschenden Mangels an Ärztenachwuchs wenig wahrscheinlich.

Mein Freund Maurice stellt zwar nicht in Abrede, daß die Farce der Jungärzte von Beaujon eine grobe Geschmacklosigkeit war, aber er gibt ihnen recht, wenn sie sich hinter pädagogischen Argumenten verschanzen: Es sei nicht Aufgabe eines der breiten Masse zugänglichen modernen Nachrichtenmittels, aufsehenerregende Operationen — wie die in letzter Zeit mehrfach gelungene Wiederanfügung abgetrennter Gliedmaßen — vor den Augen der staunenden Laien wohlgefällig und mit kinomäßigem, an die Instinkte appellierendem Sensationskitzel auszubreiten. Er hat seit kurzem einen Verbündeten: Der eminente Schriftsteller Andrė Frossard hat in einer Wochenschrift ähnliche Gesichtspunkte vertreten. Freilich, ohne viel Hoffnung, daß die Holzhammermethode an den verhärteten Sinnen des Gegenwartsmenschen, dessen Spiegel der Bildschirm ist, etwas ändern könnte.

Früher lachte man anders

Frankreich war schon immer ein Land, in dem die Farce, die Persiflage blühte. Aber in der Regel erkannte man selbst im dick aufgetragenen Unsinn einen Tiefsinn, den Hang zur Analyse von Tendenzen, zur Symboli- sierung von Personen und ihren Werken. Im öffentlichen Leben konnte tierischer Ernst auf die Dauer nicht gedeihen. Gerade die elegante Florettführung der berühmten Chansonniers, die auf Gehässigkeiten und geschmacklose Entgleisungen verzichteten, machte sie beliebt und gefürchtet. Sie sind heute fast durchweg ausgestorben, ihr Publikum ist auf eine winzige Kenner- elite zusammengeschrumpft. Das ist kein bloßes Geschmackssymptom mit vorübergehendem Charakter, sondern ein stetig fortschreitender Nivellierungsprozeß, dem wir im geistigen Bereich auf Schritt und Tritt begegnen. So haben sich führende Literatur- und Kunstzeitschriften in den vergangenen Wochen nicht gescheut, Schriftsteller mit Rang und Namen — ja, sogar Mitglieder der Akademie — zur Behandlung der Affäre Profumo-Keeler und der Maffia einzuspannen. Für die Farce und den Schabernack gilt der gleiche sichtbare Niveauverfall.

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