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Schattenspiele

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Der junge Pianist liebte Franz Liszl über alles. Man sagte, er sei als Vierjähriger vom letzten Schüler des Meisters im Klavierspiel unterrichtel worden. Wenn Andreas in seinem alten Kinderzimmer am Flügel saßbrannte hinter ihm stets der hohe, silberne Kerzenleuchter, dessen trunkene Flamme Schatten wie flatternde Vögel und feurige Engel an die Wand warf. Er hätte auch im Dunkel gespielt, denn er nahm die Tasten aus Elfenbein und Ebenholz nicht nach ihrer Farbe. Das Lied, das unter dem blutvollen Werkzeug seiner Finger in die Welt kam, entsprang einer Locke, die ohne jede Pose devot und regungslos auf seiner Stirne lag, wenngleich sie auf dem fiebernden Vulkan seines Hauptes ruhte, marmorn, unbeweglich wie eine Parkstatue bei Regenschauer. Wie hilflos ist so ein hölzerner Palast, der sich ein Klavier nennt, neben einem solchen Vulkan unter Knabenlocken, der es zerschmettern kann, indem er sich fragiler Finger bedient.

Da war etwas — noch war es ein Wunsch —, das seine Augen an die gegenüberliegende Wand nagelte, an der man die grauen Konturen eines Bildes sah, das Andreas erst kürzlich von dort entfernt hatte. Eine kleine Torheit seines künstlerischen Lebensfrühlings, der die schönsten Hoffnungen nährte, sich am Geringsten erfreute, das sich zum Genüsse bot. Und dennoch war er in seiner Wildheit, ein Widerstreit im Genialen, der unendlich Gefaßte; rätselhaft für seine Umwelt. Seine sogenannten Freunde waren von einer unschätzbaren Sorte: es waren nur zeitweilige Freunde. Die spärlichen „Sprechstunden“, die er ihnen einräumte, entfalteten sich ausschließlich am Klavier.

Eines Abends lud er zwei von ihnen nur deshalb zu sich, um seine Wohnung auch für das Mädchen Nora zugänglich zu machen. Wie Münzen warfen die Zuhörer ihre Wünsche in den Vulkan, der sie verschluckte und dann wie die Sandalen des Empedokles wieder auswarf: als monden-bleiche Fußspitzentänze, als Scherzi und rote Tarantellen, als Balladen und Trauermärsche. Die Gruppe saß hinter dem Spieler. Andreas sah ihre Schatten an der Wand, und das war es ja, genau das, was er aus dieser bleichen Mauer mit hypnotischen Blicken heraussog und worauf die ganze Regie dieses Abends abgezielt war. Er träumte von einem bestimmten Schattenspiel: von seiner Berührung mit Nora, einer Szene ohne Stichwort und ohne Text, von kleinen fingierten Liebkosungen vibrierender Silhouetten, von huschenden Vorstellungen eines imaginären Daseins. Andreas lebte in einer Zwischensituation. In diesem Reich brauchte er nichts anderes als die schattenhafte Nähe der heimlich Geliebten. Er empfand es für gut, daß diese heimliche Sehnsucht von einem Schatten gestillt werden konnte. Auf diese Weise meinte er, seiner Einsamkeit treu bleiben und sich einer verpflichtenden Zukunft entziehen zu können, vor der er, wie vor allen Entschlüssen, Angst hatte. Das brachte ihn in seltsame Beziehungen zu seiner Umwelt, von der er als Künstler nicht beschwert sein wollte; denn er schöpfte die Inspiration aus der Phantasie und dem Verzicht.

Da saß er nun und spielte auf der Leib gewordenen Klaviatur seines Instruments, er spielte vor der Rampe seines Paradieses, als ob eine Unzahl von Welten in ihrer höchsten Essenz dieses Spiel umfaßte. Liebe war für ihn kein Naturtrieb, sondern eben auch Kunst.

Dort, an der weißen Mauer, sah er jetzt den Schattenriß des kleinen Kopfes. Das war sie. Und Andreas nahm die Oktaven und Passagen mit unwiderstehlichem Feuer, unwiderstehlich, ja, auch für die Zuhörer unwiderstehlich; denn da, noch ehe ihn das inszenierte Trugbild mit Nora an die Wand projizierte, zwängte sich eine andere Gestalt zwischen ihn und sie, ein anderer Schatten... Verhalten, wie auf entblößtem Fuße,näherte sich dieser dem gewährenden Mädchen mit einem Kuß, der sie, trunken vom Mohnsaft des Liedes, halb in seine Arme warf. Die Szene hatte sich mit solcher Geschwindigkeit entwickelt, daß Andreas einen Augenblick wie versteinert innehielt, jedoch sofort wieder mit seinen nymphischen Händen, den Zwillingsgeschwistern einer graziösen Zeit, das Spiel fortsetzte. Die angespannten Muskeln vermochten den Aufschrei, den Ausbruch des Vulkans gerade noch zu unterdrücken; denn nichts ist in der Richtung der Klage nur Klage. Für den Künstler steigt über der Schädelstätte wieder die Sonne auf.

Nach einem Furioso, darin sich seine Emotion erschöpfte und schließlich verglühte, blies Andreas die flackernde Kerze aus und drückte auf den elektrischen Lichtknopf. Es war ein Gastmahl, von dem er sich rechtzeitig erhoben hatte. Es war ein Sonnenuntergang, dem keine Nacht folgte. — Sind nicht jene Wünsche, die sich nicht erfüllen, die schönsten?

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