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Sehen ohne Augen

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Ich muß gestehen, ich war etwas aufgeregt. Wie tritt man auch einem Menschen gegenüber, dessen Ruf weltbekannt ist, mit dessen Leben man aus Büchern und Zeitungsartikeln vertraut ist, mit dem ich aber glaubte, mich nicht verständigen zu können. Als ich das Hotelzimmer betrat, nahm mir Miß Thomson, Helen Kellers ständige Begleiterin und Freundin, jede Befangenheit. Der Spieß drehte sich um: ich wollte die amerikanischen Gäste interviewen, nun wurde ich ausgefragt, nach der Stadt, in der ich lebe, dem Land und den Menschen, über Tirols Bergwelt und über mich selbst.

Fast zwei Tage erlebte ich an der Seite der beiden Damen, lernte Helen Keller als einen heiteren, natürlichen und unkomplizierten Menschen kennen und blieb, als der Zug die beiden nach Süden entführte, als ein reich Beschenkter zurück. „Ja, ja“, meinte Miß Thomson, „das ist Helen! Ich erlebe es immer wieder. Sie gibt, wo sie zu nehmen glaubt.“

Lebt sie nicht im Dunkeln, in einer großen Schweigsamkeit und tiefen Stille? Nein, sie steht weit bewußter und tiefer in diesem Leben, das uns Sehenden und Hörenden zu einer nicht mehr bewußten Selbstverständlichkeit geworden ist.

„Hier sind Blumen“, sagte Helen Keller plötzlich bei unserem Spaziergang durch Innsbruck. Und Polly Thomson führte sie zu den blühenden Tulpen und Stiefmütterchen, zu denen sie sich niederbückte und deren Blütenkelche sie unbeschreiblich zart und weich mit ihren Fingern befühlte.

In Innsbrucks Altstadt maß sie mit gestreckten Armen die Enge der Gassen und meinte, „wie in Lissabon“. Sie war ja erst vor einem Monat über Lissabon und Madrid nach Paris und Deutschland gekommen, eines der wenigen Länder, das sie noch nicht bereist hatte. Von München kommend, traf sie erstmals in Oesterreich, und zwar in Innsbruck, ein. Sie reiste zwei Tage später an die Iigurische Küste, um nach vielen Jahren anstrengender Arbeit im Dienste der Taubstummen und Blinden einen einmonatigen Urlaub bei Freunden zu verbringen.

Die Schriftstellerin begnügte sich nicht mit der Beschreibung gotischer Häuser und Portale. Sie wollte wissen, wie der Stein beschaffen war, in welchen vor Jahrhunderten die Ornamente gemeißelt worden waren. Sie verfolgte den Schwung der Linien mit der ganzen Hand, und dies gewährt ihr einen hohen ästhetischen Genuß, denn auf diese Weise erfaßt sie die wirklichen Dimensionen und die körperliche Natur eines plastischen Gegenstandes. Ihre eigene Meinung hat sie wie folgt geäußert: „Ich frage mich manchmal, ob die Hand nicht empfindlicher für die Schönheiten eines plastischen Gegenstandes ist als das Auge. Ich wollte meinen, der wunderbare rhythmische Fluß der Linien eines Ornaments ließe sich besser fühlen als sehen.“ Helen Kellers Tastsinn ist unglaublich entwickelt. So vermag sie einen alten, bearbeiteten Stein, wie jenes gotische Portal, an seiner Oberfläche zu erkennen. Als ihre Begleiterin ihr den spätgotischen, freskengeschmückten Erker des „Goldenen Dachls“ erklärte, wollte sie gleich die Bewandtnis dieses Baudenkmals wissen. Ihr lebhaftes Interesse und das Verständnis, das sie allen Problemen entgegenbringt, erfüllte mich immer wieder mit Erstaunen! Es gibt nichts, was sie nicht interessiere und worüber man sich mit ihr nicht unterhalten könne. Dabei offenbart Helen Keller einen optimistischen Glauben an das Leben und an die Welt, in der sie lebt. Auch lacht sie gerne und versteht es, Witze und Heiterkeit in die Gespräche einzuflechten.

Was meist Blinde und Taube besitzen, ist auch bei ihr sehr ausgeprägt und reich an Abstufungen: der Geruchsinn. Vor nicht langer Zeit erläuterte sie bei einem Presseinterview, mit welchen Sinneseindrücken sie mit der Welt in Verbindung stehe, und hob dabei hervor, daß jede Stadt ihre Eigenart durch Gerüche zum Ausdruck bringe. So hinterlasse London einen Eindruck von „schmutzigem Rauch und Nebel“, Paris eine „Mischung von Tabak, Wein, Parfüm und Brot“, Tokio von „Gewürzen und Küchengerüchen“. In Innsbruck stand sie am Fenster ihres Hotelzimmers, das den Blick zur Nordkette ermöglicht. Ganz unvermittelt sagte sie: „Die reine und klare Luft läßt mich die Schönheit der Berge ahnen!“

Miß Thomson wählt stets das Typische einer Landschaft, um Helen eine Vorstellung der Gegend zu vermitteln, in der sie sich befindet. Doch meist verlangt sie selbst noch weitere Details zur Ergänzung ihres Bildes von der Außenwelt. Was immer Helen Keller tut, macht sie äußerst gründlich und bedächtig. Sie ist von rascher Auffassungsgabe, doch gewann ich den Eindruck, daß sie alles Neue in ihrer Art vollkommen zu erkennen und aufzunehmen trachtet, um es nie wieder zu vergessen. Sie besitzt eine Anschauung der Dinge, die sie weder sehen noch hören kann, und die wir wohl nie verstehen werden, weil wir jenen Sinn nicht besitzen, der zugleich sieht, hört und fühlt. Der ganze Körper, erklärte Miß Thomson, reagiert auf die Umgebung, und besonders die Hautnerven haben eine viel größere Vermittleraufgabe als bei uns, die wir sehen und hören.

Verwunderlich ist, wie heiter und glücklich das Wesen der Schriftstellerin ist und wie sehr sie vermag, diesen Zustand anderen mitzuteilen. Ich habe es selbst erlebt, und gerade das erschien mir als der Reichtum, den Helen Keller zu schenken vermag. Sehr deutlich zeigt sich dies bei ihrer Begleiterin und Freundin. Seit

41 Jahren ist sie nicht von der Seite der Schriftstellerin gewichen und zu jeder Tagesstunde ist sie von überaus charmanter Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit. Selbst Unannehmlichkeiten und sogar ärgerliche Vorkommnisse versteht sie trotz ihres Temperaments lächelnd zu schlucken. Ich bewunderte diese vollendete Dame, konnte aber nicht umhin, zu fragen, wie das denn möglich sei. „Ach, Kind“, sagte sie, „sind Sie nicht auch schlecht gelaunt und verärgert, wenn sie Langschläferin sind, aber um 5 Uhr morgens geweckt werden? Gehe ich aber dann in Helens Zimmer und sehe sie mit ihrem überaus gütigem Lächeln am Toilettentisch oder am Fenster stehen — da werde ich so beschämt, daß mein Mißmut sogleich einer Zufriedenheit weicht. Meine beste Erziehung hat mir Helen vermittelt und das Zusammenleben mit ihr.“

Unsere langen und interessanten Gespräche wickelten sich meist so ab, daß Miß Thomson meine Fragen und Aeußerungen mittels der Fingersprache an Helen Keller weitergab, die aber selbst „sprach“, d. h. sie artikulierte stark, was optisch anfangs irritierte und sprach ohne Modulation in einem leisen, hauchenden Tonfall, jedes einzelne Wort gleich stark betonend. Es ist nicht leicht, sie zu verstehen, jedoch gewöhnt man sich bald an die Ungewöhnlichkeit dieser Sprechart und lernt bald auf die Mundbewegungen zu achten, um die einzelnen Worte leichter zu verstehen. Es muß für die amerikanische Schriftstellerin eine große Kraft- und Geduldprobe gewesen sein, um als Taubstumme und Blinde zugleich überhaupt dieses Sprechen zu erlernen. Kinder, welche hören, erlangen das Sprechvermögen ohne besondere Mühe, das taube Kind aber muß es durch langsames, oft sehr anstrengendes Abschauen der Mundbewegungen erlernen. Noch schwieriger ist aber der Fall bei einer zusätzlich Blinden.

Die Fingersprache dagegen ist sehr leicht erlernbar. In der Regel benützen Taubstumme ein einheitliches Fingeralphabet. Das Buchstabieren gleicht einem Fingerspiel und geht in unglaublicher Geschwindigkeit vor sich, so daß eine Unterhaltung keine Anstrengung ist und nie langweilig wirkt. Der Taubstumme ist sich dabei der einzelnen Buchstaben genau sowenig bewußt, wie wir beim Sprechen. Das hochentwickelte Tastgefühl ist oft mehr als verwunderlich. Auf diese Weise hat Helen Keller die gesamten Vorlesungen während ihres Universitäts-studiums von ihrer Erzieherin vermittelt erhalten.

Wir unterhielten uns hauptsächlich in Englisch, aber auch in Deutsch, das Helen Keller sehr gut beherrscht. Ich erfuhr auch, daß sie außer Französisch, Griechisch und Latein noch etwas Spanisch und Italienisch kann, aber auch Esperanto.

In dieser Sprache sieht die Schriftstellerin eine große Zukunft für ihre Schicksalsgenossen. Die erste und beste Hilfe für Blinde und Taube kann nur aus ihren eigenen Reihen kommen, meinte sie, und je stärker sie über alle Grenzen hinweg zusammenhalten, um so größer wird auch die Hilfe sein. Zu einer übervölkischen Verständigung aber benötigt man eine übervölkische Sprache, um die sehr umständliche Ucbersetzerei zu umgehen. Unter Blinden selbst wächst der Kreis der Esperantisten ständig.

Eine weitere Hilfe für die äußerlichen Mängel, wie Helen Keller das Unvermögen, zu hören und zu sehen, nennt, wird vielleicht einmal die Kernphysik bringen. Sie wird es selbst wohl nicht mehr erleben, doch ist sie überzeugt, daß diese Wissenschaft einmal den Weg zu den Gehirnzentren finden wird, um einen Blinden das Sehen ohne Augen, und einem Tauben das Hören ohne Ohren zu ermöglichen.

Was aber ist die größte Hilfe für Taubstumme und Blinde? Es ist die Erziehung. „Was wäre Helen ohne Anne Sullivan?“ rief Miß Thomson. Anne Sullivan war Helens Erzieherin durch viele, viele Jahre hindurch. Der wichtigste Tag, dessen sich die Schriftstellerin erinnern kann, war derjenige, an welchem ihre Lehrerin zu ihr kam. Sie könne den unermeßlichen Gegensatz in ihrem Leben vor und nach ihrer Ankunft nicht mit Worten schildern. „Erziehung bringt Licht und Musik in die Seele“, so drückte sich Helen Keller aus.

Die Energie und Ausdauer der Schriftstellerin ist zu bewundern. Mit 19.Monaten verlor sie durch eine schwere Krankheit das Augenlicht, Gehör und auch das Sprachvermögen. Trotzdem gelang es ihr 1904, mit Auszeichnung zu promovieren. Dabei ist zu bemerken, daß sie genau so wie alle anderen Prüflinge entsprechen mußte und für sie keine Ausnahmen galten. Man darf in diesem Falle aber auch nicht der Privatlehrerin vergessen, die mit unendlicher Geduld dem Kind den ersten Buchstaben beibrachte, ihr Schritt für Schritt vordringend die Bezeichnung der Gegenstände vermittelte, bis schließlich ein Lesen der Dramen der Weltliteratur und Uebun-gen in höherer Mathematik möglich waren. An der Universität liebte Helen Keller besonders das Philosophiestudium. Auf meine Frage nach dem Warum erklärte sie: „Die Philosophie gab meinem Geist tausend Flügel, um meinen Grenzen zu entgehen, und sie baute mit eine wunderbare, befriedigende Welt auf.“

Wissen ist Macht — lautet ein Sprichwort. Helen Keller hat es auf ihre Art umgewandelt und sagt: „Wissen ist Glückseligkeit.“ Das Wissen um Leben und Welt lassen sie alles intensiver erleben. Die Harmonie des Lebens spiegelt sich in der heiteren Ausgeglichenheit ihre Wesens. Aus dem Sieg des Geistes über die körperlichen Gebrechen und Mängel erklärt sich auch ihre Bescheidenheit und Güte, bar jeder falschen Sentimentalität. — Seit Jahren reiste Helen Keller durch alle Kontinente der Welt und hielt Vorträge, schrieb Zeitungsartikel und Bücher zum Wohle ihrer Schicksalsgenossen. Doch will die nun 76jährige, die aber wesentlich jünger aussieht, keine großen Reisen mehr unternehmen, ihre Arbeit aber nicht aufgeben, die ihren Lebensweg — wie sie selbst sagt — so reich gestaltet hat.

Aus kulturellen Vereinigungen

Kulturwerk Wien. 17. V.: „Ephesus im Lichte der Weltgeschichte.“ Dr. Schottenhtml, IX, Achamergasse 8 (19 Uhr). — 18. V.: Dr. Wallnöfer in der Reihe: „Der Arzt spricht.“ IX, Achamergasse 5 (19 Uhr). — 1. V.: ,,Das Schönste zwischen Enns und Jtfur.“ Abfahrt der Angemeldeten: Karlsplatz. Allee zwischen Kirche und Stadtbahnstation (14 Uhr). — Spanische Reitschule. Führung. Zusammenkunft: Josefs-Denkmal, JosefsptatI (14 Uhr). — Fuhrung durch das Burgtheater. Zusammenkunft beim Mitteleingang auf dem Ring (15 Uhr). — 0. V.: Fuhrung durch die Staatsoper. Treffpunkt in Gruppen um 8.30, 10.30, 13.30 und 14.30 Uhr beim Brunnen vor den Arkaden, Kärnter-Straßen-Seite. — Brunnen entlang der Ringstraße. Besinnliche Frühabendwanderung. Zusammenkunft beim Hochstrahlbrunnen auf dem Schwarzenbergplatz (17 Uhr). — 81. V.: Zwei berühmte Waldgräber. Tagesausflug. Gehzeit gegen vier Stunden. Zusammenkunft: Endstation der Linie 43 in Ncuwaldegg (10 Uhr), bei Regen nicht. —'S. V.: Wien und unser Wienerwald. IX, Achamergasse 5 (19 Uhr). '— 23. V.: Glanz und Untergang der alten Inkas. VII, Kenyongasse 8 (19 Uhr) — 24. V.: Kunstbetrachtung mit Prof. Thomek. Schottenkirche (16.30 Uhr).

Wiener Katholische Akademie. 23. V., 17 Uhr: Professor Billicsich: „Die Weltanschauung der großen griechischen Tragiker.“ — Dr, Grill: „Das Alte Testament im Lichte der Literatur und Textkritik.“ — 18 Uhr: Prof. Asperger und Dr. Moritz: „Erziehungsberatung und Schulpsychologie.“ — Dr. Feuchtmüller: „Die österreichische Barockmalerei zur Zeit Rottmayrs.“ — Professor Keilbach: „Die aktuellen Fragen der Rellgionspsychologi und Parapsychologie.“ — 19 Uhr: Dr. Schubert-Soldern: „Die Philosophie des hl. Thomas von Aquin.“ — DDr. Egger: „Die Kunst der Gotik“ (mit Lichtbildern). — 24. V., 17 Uhr: Dr. Luithlen: „Die Musikinstrument der Mozartzeit.“ — 18 Uhr: Dr. Peichl: „Neues Testament. Das Evangelium des hl. Markus.“ — 19 Uhr: Prälat Prof. Frank: „Die Wallfahrtskirche am Sonntagsberg, ihre kultur- und kunstgeschichtlich Bedeutung“ (mit Lichtbildern).

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