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Slogans auf den Hosen

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Überhaupt .— dieses Problem der erwerbstätigen Eltern im „Wasserkopf“ Budapest, wo immerhin rund zwanzig Prozent der Einwohner Ungarns wohnen! Im November 1959 schrieb Lajos Mesterhdzi in „Eiet es irodalom“, es sei unzulässig, diese Jugend als wildwachsende Schößlinge, als „Hooligans“, als Herumtreiber, Alkoholiker, als unpolitisch zu punzieren:

„Wenn auch der Hooliganismus eine wichtige Frage ist, mit der wir uns befassen sollen, so bildet er doch eine vorübergehende und nebensächliche Erscheinung. Dennoch haben sich unsere Literatur und Presse während der letzten Jahre mit den Problemen der Jugend unter verkehrten Vorzeichen und in verkehrender Darstellung befaßt, so daß in der öffentlichen Meinung beinahe schon eine falsthe Beurteilung d|r; Jugend im Entstehen begriffen ist. , ‘tfer albernder mitten im iehen’kfelnt, muß erkennen, daß unsere Epoche ein politisch besonders virulenter Zeitabschnitt ist “

Ein Jahrzehnt später schreibt Judit Kovacs im Juni 1968 in „Magyar Nemzet“ zu der Entwicklung folgendes:

„Fast schien es, daß wir ins Hintertreffen geraten und es nur bis zum Hooliganismus bringen, obwohl Reiseschilderungen von Landsleuten, die im Ausland waren, detailliert darüber berichten, was unter einem richtigen Hippie eigentlich zu verstehen ist

Heuer im Frühling habe ich mich aber beruhigt, denn obwohl es wenig regnete — entsprossen dem Budapester Asphalt dennoch einige Hippies. Auf der Väci utca traf ich einen nachlässig gekleideten, barfuß dahinreitenden Jüngling mit Chriistuäbart,.. Aluf der Also-Török- veszistraße wankte mir eine andere, mit einem zerdrückten Pyjama bekleidete Erscheinung entgegen, die ich an ihrem Abzeichen mit den Buchstaben LSD als Hippie erkannte Ein Gymnasiast erzählte mir, daß zwei seiner Klassenkameradinnen bei einem Schulausflug Höschen mit aufgedrucktem englischem Text ,Make love not war’ trugen. Ihre Eltern hatten ihnen die Sachen aus dem Ausland mitgebracht “ Die Verfasserin dieses Aufsatzes über „Hippies“ fragt entsetzt: „Ist es aber nicht eine Niederträchtigkeit, sich zum Nichtstun zu bekennen in einer Gesellschaft, in der die Arbeit am höchsten gilt? Zweifellos. Und deshalb haben diese Parolen bei uns viel negativeren Klang als ln den USA Die einzige Aktivität der Hippies ist die Liebe. Sollte dies auch auf den Medizinstudenten zutreffen, für dessen Ausbildung der Staat 150.000 Forint aufwendet? Ich mußte die Erfahrung machen, daß die Konzentrierung auf Sex vielfach mit einem nachsichtigen Lächeln zur Kenntnis genommen wird “

Neue Familienpolitik

Unmittelbar nach 1954 machte man die Horthy-Periode und die Spuren des furchtbaren Krieges für die wachsende Jugendkriminalität, die fehlenden Heime, die. Disziplinlosigkeit oder die mangelnde Ehrfurcht vor Eltern und Erziehern verantwortlich. Sogleich nach dem grauenvollen Ende des Budapester Aufstandes

1956 jagten einander Nachrichten und Kommentare über tausende junger Magyaren, die in die Sowjetunion überführt wurden, über elternlose Kinder, über Wildheiten der Halbwüchsigen. Zwölfjährige Knaben, so der Sohn eines jüdischen Rechtsanwaltes, hatten Panzer geknackt, Maschinengewehre bedient; waren schließlich ausgerissen, um wochen- oder monatelang einer Bestrafung für die Teilnahme am Aufstand auszuweichen.

Und was ist heute? In den vom Budapester Stadtrat verwalteten Anstalten und Erziehungsheimen wurden, wie „Neps za badsäg“ im Früh- jalir 1968 schrieb, 40 Prozent;’ des l ehr- Jipid,, Aufsicht pej pnn s „aqs- gewechselt. Die Zahl der gerichtlich verurteilten Minderjährigen betrug

1957 3510 und 1967 5921. Rund 4500 Kinder unter 14 Jahren mußten durch Behörden aufgegriffen und einer Besserungsanstalt überwiesen werden oder gelangten unter die Betreuung staatlicher Fürsorgerinnen. Natürlich reicht die Zahl der Erziehungsheime und -anstalten für die Kinder und Jugendlichen Budapests nicht aus. Es spricht für den Familiensinn und die Selbsthilfe in der Verwandtschaft, wenn sich erst seit 1956 die Zahl der in den Anstalten volltägig untergebrachten Schulkinder lediglich um 60 Prozent erhöhte.

Während noch vor wenigen Jahren die Geburtenziffern Ungarns die zweitniedrigsten in ganz Europa waren und man von einem „sterbenden“ Volk sprechen konnte, hat sich dieses Bild bis zum Sommer 1968 doch entscheidend geändert. Eine einjährige bezahlte Karenzzeit für werktätige junge Mütter, progressiv steigende Kinderzulagen, die Abschaffung der herkunftsmäßigen „sozialen“ Ausschlußbestimmungen für Bewerber der Mittel- und Hochschulbildung haben die Kinderzahl emporschnellen lassen. Ungarns Bevölkerungspolitik scheint gegenwärtig ähnliche Erfolge aufzuweisen, wie seinerzeit Frankreichs geglückter Versuch, durch Zubußen, Förderung und Propaganda dem Volkstod Einhalt zu gebieten.

Ungarns Bildungspolitik hat mit einer Anzahl „Engpässen“ zu rech- nenrUPeKMeiee-gflhenicdic Schwierigkeiten auf die Räkosi-Ära unter Stalin zurück. Für einen jungen, bevorzugten Parteigenossen „mit Hintergrund“ betrug etwa das monatliche Räkosi-Stipendium das Monatseinkommen eines mittleren Betriebsleiters. Es war möglich, dank „gesunder sozialer Herkunft“ aus Arbeiter- und Kleinbauernkreisen und dank einer zuverlässigen, linientreuen Haltung, Prüfungen zu „schaffen“, für die das fachliche Wissen der Kandidaten sonst nicht gereicht hätte. Daneben drängten sich immer mehr Kinder in die Mittelschulen und Hochschulen. Wie anderwärts, resultierte daraus ein zeitweiliges Überangebot an Abiturienten, an Absolventen von Fachmittelschulen, an Hochschuiabgämgem bestimmter Branchen, die nicht gerade Physik, Chemie oder Mathematik betrafen.

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