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Sternstunden

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Eine „Sternstunde der Filmkunst“ nennt Deutschlands führender Filmkritiker Gunter Groll den Augenblick, da uns der Däne Carl Dreyer vor genau 30 Jahren in Paris den Stummfilm „Leidensweg und Tod der Jeanne d'Arc“ schenkte. Auf der Biennale 1952 soll ein Regisseur im Anblick der Wiederaufführung bekannt haben: „Wir sollten alle unsere Filme, die wir so ahnungslos gedreht haben, wegwerfen und von vorn anfangen.“ Da wir eben erst durch eine verdienstvolle Aufführung des Oesterreichischen Filmarchivs ein Wiedersehen feiern konnten, verstehen wir erst ganz die männliche Verzückung der obigen Stimmen. Verzückt, verzaubert und zutiefst ergriffen erlebt ein jeder diese Wiederbegegnung: mit Dreyers Instinkt für das vielleicht mächtigste Stilmittel des Films, die Großaufnahme (die volle, die angeschnittene, halbierte und geviertelte, die zentrale, die an den Rand und in Winkel gedrängte), und mit dem Leidensantlitz der Falconetti mit den weitgeöffneten Augen und zerrissenen Lippen: der Mensch zwischen den Menschen und Gott. — Der Schwanengesang des Stummfilms. Sein letztes, sein schönstes Lied in Bildern.

Noch ein zweites Mal schauen und horchen wir in dieser Woche auf. In das öffentliche Programm der Wiener Urania zieht die französische Verfilmung von Kazantzakis „Wiedergekreuzigtem Christus“ unter dem Titel „Der Mann, der sterben muß“ ein, die wir schon anläßlich der aufregenden Begegnung auf der V. Internationalen Festwoche des religiösen Films im November würdigen konnten. Verhärtung und Mitleiden, Kollaboration und Widerstand geistlicher Mächte gegen weltliche und schließlich die kühne Parabel von der (sozusagen) „ewigen Wiederkunft der Passion“ (dargestellt an dem figurenreichen Kontrastschnitt zwischen einem Passionsspiel und realen Begebenheiten in einem griechischen, türkisch unterjochten Dorfe): eine berstende Fülle brennend aktueller Anliegen und ein großartiger, zu Begeisterung und Widerspruch aufreizender Film.

Eine , italienische, zur Virtuosität entwickelte Spezialität, der Episodenfilm, feiert in „A m o r e in c i 11 ä“ (Liebe in der Stadt) einen neuen Triumph. Die ungleichen fünf Intermezzi, bisweilen nur flüchtige, pikante Feuilletons, erreichen in Federico

Fellinis „Heiratsvermittlungsbüro“, noch mehr In Zavattini-Masellis „Geschichte von Caterina“ einen atemraubendeh Höhepunkt: Poesie der armen Leute, wie sie kein literarischer Naturalismus bisher geben konnte.

Kein Kunstwerk, aber ein fülliges, pralles Abenteuer mit menschlichem Hintergrund ist „El H a k i m“; es gibt dem Film, was des Films ist, und noch mehr seinem Ueberhelden O. W. Fischer. Sein Stern zieht meteorhaft seinen Bogen über uns: aber immer noch höher und höher.

„Frauenarzt Dr. Bertram“, ein deutscher Film mit Willy Birgel, jongliert mit dem hippokrati-schen Eid wi ein Seehund mit einem Ball; ein innerlich unsauberer Film. — „Liebe, Jazz und Uebermut“ hat in Peter Alexander einen deutschen Revuestar von Format, „Liane, die weiße Sklavin“ leider in Marion Michael nur eine Ziegenmilchschwester des seligen Tarzan.

„Seidenstrümpf e“, eine Hochglanzkopie der Lubitsch-„Ninotschka“, dreht die Garbo-Rolle auf die brillante Tänzerin Cyd Charisse und Ost-West-Problematik auf Musical. Wenn es den Amerikanern doch auch in Wirklichkeit so glänzend gelänge!

Die „beiden Film-Frankreich“ spiegelt sinnfällig eine Sensationspremiere im Wiener „Forum“: Im Vorprogramm ein .,U t r i 11 o“-Film von berückender künstlerischer. Leuchtkraft, darnach „Die Pariserin“ mit Brigitte Bardot, die den Dienstmädchensex salonfähig gemacht hat. In „Marianne“ wohnen eben zwei Seelen in einer Brust. Manchmal überwiegen die ersteren und manchmal die letztere.

1 *

F i 1 m s c h a u (Gutachten der Katholischen Filmkommission für Oesterreich) Nr. 2 vom 11. Jänner: III (Für Erwachsene und reifere Jugend): „Heimweh — dort, wo die Blumen blühn“, „Liebe, Jazz und Uebermut“, „Die Zwillinge vom Zillertal“, „Die zwölf Geschworenen“ — IV (Für Erwachsene): „Gegen Tod und Teufel“, „Der Held von Brooklyn“, „Ein Mann besiegt die Angst“, „Die Monte Carlo-Story“, „Stolz und Leidenschaft“ — IVa (Für Erwachsene mit Vorbehalt): „Das Geheimnis der drei Dschunken“, „Jungfrauenkrieg“.

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