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Theater zwischen Mysterium und Wissenschaft

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Peter Brook, Direktor der Royal Shakespeare Company, Jahrgang 1925, hat ein Buch geschrieben, dessen Mängel offenkundig sind und das dennoch eines der wichtigsten Theaterbücher unserer Tage ist: „Der leere Raum.“ Die Mängel sind formaler und, soweit von der Übersetzung aufs Original zu schließen ist, stilistischer Art. Das Buch ist unsystematisch, die Beweisführungen sind nicht immer schlüssig: je mehr Brook ins Theoreti- sieren gerät, je entschiedener er auf die „Confessio“ zusteuert, desto mehr gerät er ästhetisch ins „Schwimmen“. Der Ausblick, wie Theater sein sollte, ist so engagiert wie vage. Das kann gar nicht anders sein: kein Theatermensch, der zu sich und seinen Lesern ehrlich ist, wäre in der Lage, ein Zukunftsbild des Theaters bündig zu entwerfen. Trotzdem muß er weitermachen, und er muß auch an das glauben, was er macht.

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Peter Brook, Direktor der Royal Shakespeare Company, Jahrgang 1925, hat ein Buch geschrieben, dessen Mängel offenkundig sind und das dennoch eines der wichtigsten Theaterbücher unserer Tage ist: „Der leere Raum.“ Die Mängel sind formaler und, soweit von der Übersetzung aufs Original zu schließen ist, stilistischer Art. Das Buch ist unsystematisch, die Beweisführungen sind nicht immer schlüssig: je mehr Brook ins Theoreti- sieren gerät, je entschiedener er auf die „Confessio“ zusteuert, desto mehr gerät er ästhetisch ins „Schwimmen“. Der Ausblick, wie Theater sein sollte, ist so engagiert wie vage. Das kann gar nicht anders sein: kein Theatermensch, der zu sich und seinen Lesern ehrlich ist, wäre in der Lage, ein Zukunftsbild des Theaters bündig zu entwerfen. Trotzdem muß er weitermachen, und er muß auch an das glauben, was er macht.

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Brook ist Theatermensch, kein Bücherschreibeir. Br mußte dennoch dieses Buch schreiben, um seine Gedanken ad acta legen zu können und dann weiteraumachen, ganz woanders und immer wieder Von vom. Das Buch ist — um einen Ausdruck zu gebrauchen, den Brook an einer Stelle selber benutzt — „schamlos persönlich“. Es zeugt von der Unmöglichkeit zu formulieren, was den Künstler bewegt, inspiriert, antreibt. Ich denke dabei nicht an die „Gen!ie“-Vorstellung des 19. Jahrhunderts; damit hat Brook überhaupt nichts zu tun. Aber ein großer Regisseur definiert durch seine Arbeit sich selber, und nur durch seine Arbeit. Dennoch muß er reden, in erster Linie zu Schauspielern, mit denen er arbeitet; das gehört zu seinem Beruf. Brook spricht in diesem Buch, so scheint es, wenn nicht zu sich selbst, dann zu seinen Schauspielern.

Man könnte, dieses Buch besprechend, eine Unzahl von Zitaten bringen. Peter Brook redet darin fast ausschließlich in „Kemsätzen“, es gibt nichts „Beiläufiges“, kein lichtes Geplauder. Jede Passage zielt in einen „Kern“; das Ganze hat eigentlich keinen, es sei denn jenen, der das Buch am Ende von sich abweist, die Tagesordnung, zu der Brook, nachdem er es geschrieben hatte, überging: die Praxis. „Der leere Raum“ ist durchdrungen von Praxis. Davon später. Doch diese Kembezogenheit ist es wohl, die Siegfried Melchinger in seiner adäquaten Vorrede im Auge hatte, als er schreib: „Wo immer dieser Outsider Theater macht, ist Zenitrum.“ Wo Brook Theater macht, ist kein lärmendes Zentrum, so. aufsehenerregend seine Inszenierungen auch sind, immer aber ist da Konzentration.

Dieser Akt, geistig Mitte zu schaffen, entzieht sich der Verbalisierung. Die Wörter, die Begriffe tragen ihren Widerspruch mit sich und werden paradox. Brook bemerkt das und nennt das Paradox „ganz einfach“: Wörter wie „Schönheit, Magie und Liebe“ scheinen „tödlich“ zu sein; worauf es ankäme, sei, „was sie durchschimmern lassen“. Zwei Zitate, einige „Kemsätze“ an dieser Stelle: „Nur durch das Suchen nach einem neuen Unterscheidungsver- mögen können wir den Horizont des Realen weiter stecken.“ Und: „In der ganzen Welt muß fast alles, was das Theater noch hat, weggefegt werden, um das Theater zu retten. Dieser Prozeß hat kaum begonnen und kann vielleicht nie enden. Das Theater braucht seine permanente Revolution.“ Diese Sätze, genaiu beleuchtet, verharren in der Schwebe. Es kommt nicht so sehr auf ihre Wörtlichkeit an als auf das, was „hindurchschimmert“. Brooks Beziehung zu Beckett wird, nebenbei, aus solchen Hinweisen einsehbar.

„Der leere Raum“: die „wahre Nacktheit einer Bühne“, Leichtigkeit und Weite“ — für einen Thea- termenischen ist das die Welt, nicht weniger. Das letzte Kapitel, überschrieben „Das unmittelbare Theater“, bezieht sich auf die praktische Arbeit des Regisseurs Peter Brook mit den Schauspielern bis auf den Schluß, der vom Publikum handelt, von der „Kulturhäufung“, die ihm „verkauft“ wird, und von der Idee eines möglichen Theaterereignisses). Dieses Kapitel der Praxis sollte Pflichtlektüre jedes angehenden Schauspielers, jedes jungen Regisseurs werden. Sensibleres, Einfühlsameres, aber auch Konsequenteres und Sachbezogeneres wurde niemals über die Arbeit mit Schauspielern, über dieses Fegefeuer der mitmenschlichen Beziehungen, geschrieben. Brook hat Ehrfurcht vor dem spielenden Menschen, aber nicht zuviel. Er kennt die „Tricks“, nicht nur jene, mit denen mittelmäßige Darstellungsbeamte bewußt zu täuschen suchen (vermutlich kommt er mit solchen gar nicht mehr in Berührung), sondern mehr noch die scheinhaften Tugenden.

Eine davon ist die Natürlichkeit, die sich „auf Beobachtungen oder die eigene Spontaneität gründet“. Was dabei herauskommt, ist nichts weniger als natürlich, Bild der ungebrochenen Natur; es ist Zweitfabrikat, versteinert. Was der so disponierte Schauspieler dem „Leben“ zu entnehmen meint, ist nicht lebendig, ist nicht von ihm erfunden, sondern Ausdruck seiner „eigenen Konditionierung“, „Beobachtung eigener Projektionen“. Vielleicht ist diese Bedingtheit kaum je zu überwinden, allenfalls von jenen Großen, die „die

Worte proben und zu gleicher Zeit genau auf das Echo lauschen, das in ihnen erweckt wird“. Brook kommt es darauf an, daß die Schauspieler sich über ihre Abhängigkeit nicht hinwegtäuschen, nicht hinwegschwindeln; „Standardpraktiken“ sind ihm zuwider, dem spielenden Menschen darf keine Angst und keine Katastrophe erspart bleiben. Er darf sich nicht wohl fühlen in seiner Rolle — bis zu dem Moment, da er daran gar nicht mehr denkt; Sicherheit ist immer auch ein Zeichen des Mediokren, die Grenze zur patenten Routine wird dann unkenntlich.

Die anderen Teile des Buches haben die Titel: „Das tödliche Theater“ — „Das heilige Theater“ — „Das derbe Theater“. Das „Tödliche“ ist ein Ausdruck, in den Brook sich verbissen hat. Erst in dem Kapitel über die Praxis wird ganz klar, was er meint: Nachahmung, Beruhigung, Fertigfabrikate. Er ist ein Beunruhi- gungsregisseur. Leerlaufenden

Mechanismen sagt er den Kampf an. Eine instabüe Gesellschaft muß wählen zwischen einem falschen, bestätigenden „Ja“ und kräftiger Provokation. Ein Publikum, das mir noch aus Pflichtgefühl ins Theater geht, wirkt tödlich. Schauspieler, die zuwenig „können“ (Brook: „Der größte Teil unserer Arbeit hat Amateurniveau!“), die ihr Können nicht in Frage stellen und sich an bewährte Muster halten, wirken tödlich.

„Heiliges Theater“: ein nicht minder schwieriger Terminus. Er bedeutet bei Brook soviel wie: Unsichtbares sichtbar machen — vor allem aber (und das ist wohl das Wichtigere): die Bedingungen schaffen, unter denen dieses „Unsichtbare“ gesehen werden kann. Also: das Wahrnehmungsvermögen schärfen! Brook nennt als Kronzeugen für das „heilige Theater“ drei Namen — Merce Cunningham, Samuel Beckett, Jerzy Grotowski. Tanztheater, Theater aus der Unmöglichkeit des Schweigens, ein Laboratorium des Theaters — Konventionen sind nicht im Spiel; Brook hat den Mut, vom „Theater für eine Elite“ zu sprechen, aber er meint damit auch die Armen. „Das derbe Theater“: ein Theater der Energien. Ohne sie verdorren die lebenswichtigsten Ideen; Brecht werde zerstört von tödlichen Sklaven. Eine solche Kraft kann sich auch in einer Pause, einer Stille, aus- drücken, ,4m der sich alle unsichtbaren Elemente des Abends“ finden. In summa: Theater zwischen Mysterium und Wissenschaft — oder genauer: das Mysterium zu einer Wissenschaft geordnet. Ein letztes Zitat: „Wenn wir ein pseudoheiliges Theater zerschlagen, dürfen wir uns nicht zu dem Gedanken verführen lassen,

daß der Bedarf nach dem Heiligen altmodisch ist und die Atstronauten ein für allemal bewiesen haben, daß es keine Engel gibt.“

Brook, der Theater-, nicht Büchermensch, schreibt off enbar einen sehr subjektiven Spontanstil, der gewiß nicht leicht zu übertragen ist. Walter Hasenclever hat sich die Sache, dem Ergebnis nach, zu leicht gemacht. Sein Deutsch ist überwiegend verquollen, klischeehaft, befremdend und, dort wo die Unmittelbarkeit der Rede wiederzugeben war (dem Buch liegen vier Vorlesungen Brooks an Universitäten zugrunde), rüdejargonhaft. Dafür müssen, so unerquicklich das sein mag, Belege zitiert werden. Beispiele für schlechtes Deutsch (vom oft umständlichen Satzbau abgesehen, der aus Raumgründen nicht dargelegt werden kann): „... was ihn wirklich schwer ankammt“, „eine geheimnisvolle psychische Chemie“, „autorlose Empfindung“, „... aus seiner Sensibilität herausspringen“, „das Unsichtbare zu erhaschen“, „die Seitenbemerkung“ (gemeint ist wohl: Randbemerkung), „die unwahrscheinlichsten Bettgenossen“ (füri künstlerische Vorbilder), „katastro- phisch“, „Moralitätstrukturen“, „fragmentierte Welt“ (statt frgamentari- sche), „ein verhackstückter Shakespeare“, „embryonische Kontakte“, „gute Argumente verlieren ihr Gewinde“, „an ein Ziel gezäumt“, „Leben außerhalb des Theaters, das im Wesen für eine besondere Arena... repetitiv ist“ (das ist schlicht Kauderwelsch), „... die Wahrheit für alle Ewigkeit zu erhaschen“. Vielleicht hat Hasenclever im Zweifelsfall einfach wörtlich übersetzt, ein Prinzip, an das er sich nicht halten konnte, wenn er mundartliche und jargonhafte Wendungen einsetzte: daß die Ul des einen zur Nachtigall des anderen wird“, „ins Theater hmemzuschneien“, „mosert“ (für nörgelt), „saumäßig“, „Jiu-J'itsu in Reinkultur“, „zusammengestoppelt“, „schnuppe“ „pingelig“, „Schleimscheißer“ (auf den „König Ubu“ bezogen), „verbuddelt“, „Sauhaufen“, „an Genet und Artaud gepäppelte Schauspieler“.

Das alles ist schlimm. Theater besteht auch aus Sprache, und ein Buch über das Theater sollte dieser Tatsache Rechnung Wägen, selbst dort, wo es „Farbe“ geben will. Peter Brooks originelle und in der Praxis erfahrene Gedanken behaupten sich, allen Einwänden zum Trotz. Deshalb ist sein Buch ein großes Buch.

„DER LEERE RAUM.“ Von Peter Brook. Aus dem Englischen von Walter Hasenclever (mit einer Vorrede von Siegfried Melchinger. Hoff- mann-und-Campe-Verlag, Hamburg, 1969.

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