6635486-1957_12_06.jpg
Digital In Arbeit

Tod durch Television

Werbung
Werbung
Werbung

Televitis heißt soviel wie Fernsehsüchtigkeit. Wie schon der Name verrät, tritt sie in Kreisen der Fernsehempfänger auf. Ihr charakteristisches Merkmal ist eine langsam ansteigende Nervosität, die ihren Höhepunkt erreicht, wenn es auf 19 Uhr geht, Um diese Zeit beginnt das allabendliche Fernsehprogramm. Man hastet nach Hause, drängt sich in überfüllte Züge, blickt jeden Augenblick auf die Uhr und benimmt sich höchst unausstehlich. Zu Hause würgt man das Abendessen hinunter, wacht argwöhnisch über seinen angestammten Stuhl im halbver- dunkelten Wohnzimmer und ist gegenüber familiären und anderen Nachrichten völlig interesselos. Mit dem ersten Flimmern klirrt dann eine Schale zu Boden, ein Stuhl fällt um: die Diktatur des Fernsehens hat begonnen.

Ohne die Distanz als Regulativ von Geben und Nehmen wird uns kein Vergnügen zur Erbauung. Seelisches und geistiges Wachstum kommt durch die fiebernde, zügellose Erwartung zum Stillstand. Das Ausrichten auf dieses eine Ereignis lähmt Wille und Arbeitskraft. Im Gehirn bildet sich ein Vakuum, das erst durch die Fernsehsendung ausgefüllt wird und die scheinbar nötige Energie für den nächsten Tag vermittelt. Die Oede dieses monotonen Ablaufs zerstört mit der Zeit die Fähigkeit, zu unterscheiden und damit zu urteilen.

England liegt mit Televitis-Erkrankungen an der Spitze. Das Fernsehen ist auf der Insel zu einer Manie geworden. Es bestimmt das Leben einer ganzen Nation. Und schlimmer noch: es ist im Begriff, das Denken einer ganzen Nation zu formen. Die Television ist der Diktator des Landes geworden, der nichts neben sich duldet. Natürlich ist das Fernsehprogramm von gestern das Gesprächsthema von heute. Fernsehen bestimmt die Mode. Ein Schlager macht die Runde, wenn ihn ein Fernsehstar gesungen hat.

Es ist kaum noch möglich, am Abend zu Freunden zu gehen. Man wird hastig begrüßt, schnell in ein halbdunkles Zimmer gezogen, in einen Stuhl gedrückt — und dann herrscht Schweigen, ausgenommen natürlich der Lautsprecher unter dem flimmernden Fernsehschirm. Televitis ist im Begriff, die bereits im Sterben liegende Kunst der Unterhaltung endgültig zur Strecke zu bringen. Gegenüber dem guten alten Rundfunk konnte man sich gegebenenfalls dagegen wehren, indem man das Gerät abstellte, aber das Fernsehen übt eine zu magische Kraft aus, um sich dagegen wehren zu können.

Neben dem Vergnügen der Unterhaltung und des Lesens droht nun auch der Film ein Opfer der Televitis zu werden. Auch das Theater ist betroffen, obwohl es auch hier noch keine Vergleichszahlen gibt. Wenn jedoch ein neues Theaterstück durchfällt und nach wenigen Tagen abgesetzt werden muß, haben es vielleicht tausend bis zweitausend Menschen gesehen, der Rest der Menschheit erfährt niemals etwas davon, und nur der Unternehmer hat ein kleines Vermögen verloren. Im Fernsehen gibt es derlei natürlich nicht. Jedes Theaterstück wird — mit ganz wenigen Ausnahmen — nur einmal gezeigt, und da die Zuschauer vorher nicht wissen können, wie es sein wird, kann auch das schlechteste Theater mit 15 Millionen Zuschauern rechnen. Einen Durchfall kann es höchstens in den Zeitungskritiken am nächsten Morgen geben; die 15 Millionen Teilnehmer werden am nächsten Abend Jedoch ihr Gerät wieder einstellen.

Televitis hat nicht nur eine Umformung der gesellschaftlichen Sitten Zur Folge. Ihre Ausbreitung wird vielmehr ohne Zweifel auch die Gesellschaftsstruktur der Zukunft bestimmend beeinflussen. Sie ist jedenfalls das bisher machtvollste Mittel zur Vermassung. Mit Anklagen und Bedenken sind künstlerische oder technische Fortschritte jedoch noch niemals aufgehalten worden, und zweifellos gehört auch das Fernsehen in diese Kategorie. Aber zwischen Fernsehen und Televitis besteht ein gewaltiger Unterschied.

Vor einiger Zeit wandte sich in London eine junge Hausfrau an eine öffentliche Rechtsberatungsstelle, weil sie vollkommen ratlos geworden war. Die Abzahlungsschulden für ihr Fernsehgerät waren ihr einfach über den Kopf gewachsen. Die Beratungsstelle schlug vor, das Gerät dem Fachgeschäft zurückzustellen. „Alles andere”, flehte die Frau, „aber nicht den Fernsehapparat! Ich kann ohne Fernsehen nicht mehr leben!” Der Empfänger wurde ihr mit Gewalt abgenommen, worauf die Frau die Gashähne öffnete. Das war der erst Todesfall von Televitis.

Es wird vermutlich nicht der letzte sein, denn wie hinter jedem Schmerz, hinter jeder Gefahr die dämonische Verlockung lauert, sich ihr willenlos zu überantworten, so liegt auch im Vergnügen, das über unsere Sinne gebietet, dieselbe Versuchung. Letzterer erliegt man um so leichter, als der geschäftig zerfaserte Alltag, in dem wir uns bewegen, nur geringe Möglichkeiten einer stabilen Abwehrleistung bietet. Daran sollte man gedacht und darüber nachgedacht haben, noch bevor man ein Fernsehgerät eiwirbt. Denn was sich heute noch auf England beschränkt, kann morgen schon bei uns Fuß fassen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung