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Traumwelt der Kindheit

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Die junge Bretonin legt mit ihrem ersten Roman ein außerordentliches Buch vor. So einfach die Fabel ist, es gelingt Michelle Lorraine, in dem schlichten Geschehen ein Gleichnis des ganzen Lebens zu offenbaren.

Das „Schloß im Meer“ ist ein abgetakeltes Kriegsschiff, das fünf Kindern — vier Buben urfd einem Mädchen — zu einer so dichten Traumwelt wird, daß sie darüber die Wirklichkeit ihrer Ferien vergessen. Das Schiff liegt in einer bretonischen Bucht, die zum Schiffsfriedhof geworden ist, in einer „Landschaft, auf der der Zauber des Todes lag. Hätte Dornröschen wirklich gelebt, so wäre sein Schloß nicht weit gewesen, und vielleicht auch der Bär, dem der Kaufmann das Nußzweiglein stahl“. Hier verbringen die Kinder ihre Nachmittage, völlig im Bann ihrer unendlichen Traumreisen, in ihnen die Meere der Welt befahrend — bis das Schicksal jäh eingreift. Nach einer Sturmnacht, als die Kinder gerade dort sind, sinkt das alte Schiff, und einer der Buben ertrinkt dabei.

„Endlich ist die Möwe zurückgekommen; ihr Fernbleiben hatte mich bekümmert: dabei wußte ich allerdings nicht, daß die Ratten das sinkende Schiff verlassen. Sie kreist über uns.

In diesem Augenblick kam ein mächtiges Dröhnen von unten herauf und verbreitete sich sehr schnell nach allen Seiten; eine große Bewegung warf uns auf die Bretter. Ein Krachen folgte, aber, das weiß ich, kein Schreit Wir lagen noch immer auf Deck; auf einmal bemerkte ich, daß das Schiff sich senkte: das Hinterdeck, auf dem wir uns befanden, richtete sich allmählich wieder auf.

Was aber darnach geschah, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nicht, wer Alarm schlug; ick glaube, man hat mir gesagt, Pepe sei es gelungen, das Boot und das Ufer zu erreichen. Eine Sturmnacht hatte genügt, damit das schöne Schiff in seinen Tod ging.

Und in jedem Sommer, alljährlich, wenn die großen Herbstwinde kommen, werdet ihr mich traurig finden, denn immer noch sehe ich dann den Trauerzug, der Pierrot im Regen zum Friedhof geleitet, die Mütze mit roter Quaste auf dem Grabe, und gedenke' der fernen, die wir zusammen entdeckt hatten und die nun auf einmal entschwanden.“

Eine unendliche Verlorenheit bedrängt nun die Kinder; jedes allein und unglücklich, scheut auch die Begegnung mit den einstigen Gefährten. Wo hätte das hingeführt, wäre nicht der alte Seemann Figuier gewesen, Freund der vergangenen Tage, der alles versteht, der weder Fragen noch Vorwürfe hat, aber viel behutsame Liebe, die ihn das Rechte gegenüber den Verschreckten tun und sagen läßt. Er führt die alten Gefährten wieder zusammen, er geht mit ihnen auch zum Schauplatz des Unglücks und macht ihnen begreiflich, daß man nicht ausweichen darf, daß man die trostlose Vergangenheit nur bewältigen kann, wenn man sie annimmt, hineinnimmt in die Zukunft.

„Nie ist etwas zu Ende, außer im Märchen: Und auch ihre Epiloge sind nur so kurz, weil sie sich über jene Zeit nicht äußern möchten, in der Menschenfresser und Drache verschwunden sind und in der das Schönere, das Einfachere zum Vorschein kommt. Ich laufe fort auf dem Weg, der zum Steinbruch führt, ich laufe die Wiesen beim Friedhof hinunter und fühle mich leicht, so leicht. Seit jenem Augenblick leistet mir meine Seele Gesellschaft.

Nichts verlangt vielleicht soviel Mut als die Treue, und doch beruht alles auf ihr: das leben wird durch sie freier, und sie bändigt sogar den Tod.“

Ein solches Buch konnte nur Jemand schreiben, den Stille und Einsamkeit geprägt haben. Daß es ein junger Mensch ist, beglückt besonders. Wir dürfen von Michelle Lorraine, wenn die Traumwelt ihrer Kindheit ihr lebendig bleibt, sehr viel erwarten. Die ausgezeichnete Uebersetzung Oswalt v. Nostitz' verdient besondere Erwähnung.

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