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Weihnacht am Oefangenenscliiff

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Sie waren fast vier Wochen unterwegs, als der Weihnachtsabend herankam.

„Was wird heute abend werden?“ sagten sie am Nachmittag, „ob die Amis etwas springen lassen?“

Als der Abend kam, lagen sie in ihren Hängematten oder saßen auf dem Boden und v/arteten auf das Wunder. Sie hatten keinen Baum, keine Lichter, nichts, was. sie an Weihnachten erinnert hätte. Wie an jedem Tag, standen sie in langen Schlangen vor der Küche an. Die Rationen waren wie immer. Dann lagen sie hungrig in ihren Hängematten. Ein halbdunkles diffuses Licht erfüllte den Raum. In der Mitte auf dem Boden saßen ein paar Skatspieler und klopften hart auf den Boden.

„Schönes Weihnachten“, flüsterte Grundmann.

Gühler hatte die Hände unter dem Kopf verschränkt und dachte an Weihnachten der vorhergehenden Jahre. Einmal hatte er es in Polen erlebt, einmal auf einem Transport in einem Viehwaggon. Damals hatten sie gesungen und den Sternen nachgesehen, die über dem rollenden Zug standen. Er nahm den Fuß hoch und stieß leise an die Hängematte über ihn.

„Woran denkst du, Santo?

„An meine Kleine“, sagte Santo und beugte sich aus der Hängematte, „sie wird jetzt unter dem Weihnachtsbaum stehen. Gestern ist sie acht Jahre alt geworden.“

„Wie sieht sie denn aus?“

Santo lächelte in sich hinein.

„O, ganz niedlich, so ganz kra Haare, braun. Die Augen hat sie von mir, weißt du. Und wenn sie lacht, zieht sie die Nase hoch. Aber die ist klug, die Kleine, da mußt du aufpassen.“

„Wie lange hast du sie denn nicht mehr gesehen?“

„Ja“, sagte Santo, „das ist nun schon zwei Jahre her. Ich mag gar nicht daran denken. Vielleicht noch zwei Jahre in Gefangenschaft, das sind vier Jahre.“

„Vielleicht kommen wir schneller nach -1-Iause, die Amerikaner werden uns bald entlassen.“

„Hoffentlich machen die bald Schluß bei uns.“

Plötzlich stand ein Feldwebel mitten im Raum. Ein paar Unteroffiziere standen hinter ihm.

„Ruhe!“ brüllten sie.

Es wurde lautlos still in dem stickigen Raum.

Die Skatspieler hielten ihre Karten in den Händen und hatten sich zu dem Feldwebel umgewandt.

„Jetzt kommt's“, flüsterte Grundmann, „das Weihnachtswunderl“

In einer. Ecke klapperte ein Kochgeschirr.

„Ruhel“ brüllte einer der Unteroffiziere wieder.

Eine metallische, knarrende Stimme erfüllte den Raum. Der Feldwebel sprach.

„Kameraden, wir haben Weihnachtsabend, das vierte Kriegsweihnachten. In dieser großen Stunde, in der das Vaterland in Gefahr ist...“

Eine unruhige Welle des Protests lief durch“ die Hängematten.

„Wer ist denn das?“ sagte eine helle, hohe Stimme.

„... gedenken wir unserer Lieben zu Hause, aber wir denken auch an den, der Deutschland zum Sieg führen wird ...“

„Quatsch“, sagte einer Skatspieler, „los, weiter!“

Sie drehten sich um und schlugen ihre Karten auf den Boden.

„Ruhe!“ brüllten die Unteroffiziere.

„Haltet euer Maul, wir wollen den Quatsch nicht hören!“ schrie einer aus der Ecke, in der auch Gühler lag.

„Das kann ja heiter werden!“ flüsterte Grundmann.

. unseren Führer Adolf Hitler..

In einer Ecke setzte ein Pfeifkonzert ein.

„Aufhören!“ schrien sie, „aufhören!“ Der Feldwebel sah sich aufgeregt um.

Ein dicker Koch kam aus der Küche gerannt und schwang einen Schöpflöffel.

„Wir wollen den Unsinn nicht mehr hören“, schrie er, „wir nicht, verstehst du!“

Ein rasendes Beifallsklatschen erhob sich in einer Ecke.

„Heil!“ schrie einer und lachte. In einer Hängematte schlug jemand ununterbrochen mit seinem Löffel auf sein Kochgeschirr. Die Skatspieler brüllten: „Grand, Hosen herunter!“

„Ja, die Hosen herunter, zieht ihnen die Hosen runter!“ rief Buchwald, der sich vor' Wut kaum halten konnte. Gühler und Grundmann saßen da und lauschten in den Tumult. Der Feldwebel öffnete den Mund:

„...unserm Führer Adolf Hitler ein dreifaches Sieg ...“

„Heil!“ antwortete eine klägliche Stimme. Selbst die Unteroffiziere schwiegen.

„Sieg“, schrie der Feldwebel wieder.

„Raus mit dem, raus!“ rief Pips, der mit seinem langen Luftwaffenmantel hinter dem Feldwebel stand. Die Fallschirmjäger schoben sich langsam an den Feldwebel heran. Sie sahen drohend in den Raum.

Der Feldwebel stimmte das Horst-Wessel-Lied an. Er hatte eine hohe zittrige Stimme. Die Fallschirmjäger fielen ein, dann die Unteroffiziere. „Aufhören, aufhören!“ schrie es von allen Seiten.

„Gleich geht die Schlägerei los“, sagte Grundmann, „schönes Weihnachten.“

Dann hörten sie Santo über sich singen. Er sang: „Stille Nacht.“

„Los“, sagte Grundmann, „mitsingen. Wir singen sie einfach aus dem Raum hinaus.“

Sie sangen mit. Immer mehr Stimmen fielen ein. Langsam stieg das Lied an. Immer brausender erhob sich der Gesang. Grundmann und Gühler überschrieen sich fast. Sie brüllten, rot im Gesicht: „Stille Nacht, heilige Nacht.“

Dann sang das ganze Schiff. Das Horst-Wessel-Lied verstummte jäh. Sie sahen den Feldwebel mit einem wütenden Achselzucken davongehen. Niemand kümmerte sich mehr um ihn. Auch die Fallschirmjäger und die Unteroffiziere sangen mit.

Gühler hatte sich auf seine Hängematte ausgestreckt und schwieg. Er mußte wieder an die Frau denken, die in der kleinen Hütte bei Terracina saß. „Die Madonna“, dachte er, „vielleicht war es doch die Madonna.“

Er sah die Frau in der kleinen Hütte sitzen, allein, die Arme auf den Knien, eine von Millionen Frauen, die wartete, umsonst, mit leerem Herzen, Neben sich hörte er Grundmann singen. Er sang mit einer tiefen, innigen Inbrunst. Er nahm das Bild aus seiner Brusttasche und sah es sich wieder an.

Das Lied verstummte, aber die Melodie stand noch unsichtbar in dem Raum, in dem diffusen Licht. Die Skatspieler hatten ihre Karten eingesteckt und sich auf den Boden gelegt. Kein Wort fiel. Gühler hörte Grundmann neben sich schluchzen. Er richtete sich ein wenig auf und sah ihn an:

„Was ist dir, Heimweh?“ flüsterte er.

Grundmann schwieg, Er zog die Decke über sich und sagte nichts. Gühler hörte Santo über sich flüstern:

„Wenn die zu Hause bloß wüßten, daß wir in Gefangenschaft sind, das wäre das schönste Weihnachten für sie.“

„Sie werden es schon wissen.“

„Wenn sie uns doch hier sehen könnten in unseren Hängematten.“

„Kannst du nicht ihren Weihnachtsbaum sehen und alles, was um sie ist?“

„Ja“, sagte Santo, „wenn ich die Augen zumache, sehe ich alles, die Kleine mit ihren Sachen, Jetzt ist sie wohl schon im Bett.“

„So werden sie uns auch 6ehen“, antwortete Gühler. Grundmann flüsterte neben ihm:

„Dieser Krieg, dieser Mistkrieg.“

„Laß“, sagte Gühler, „du hast noch so viel vor dir, ein ganzes Leben.“

„Du hast recht“, flüsterte er und zog die Decke über sich.

Dann wurde es still, Gühler zog die Decke über den Kopf. Er spürte den Hunger in seinem Magen, einen hohlen beißenden Schmerz. Aber er dachte: Das Lied ist stärker gewesen.

Er hörte die Melodie in sich nachklingen, unbeholfen, rauh, gesungen von fünfhundert hungrigen Gefangenen.

Dann kamen die Kerzen auf ihn zu, tausend Kerzen, die langsam das Schiff überfluteten. Er sah das verwaschene Madonnenbild über sich und dahinter das Gesicht jener einsamen Frau in Terracina. Die Gesichte schoben sich, ineinander, verwandelten sich und waren plötzlich das Gesicht seiner Mutter. Dann schlief er ein.

Aus „Die Geschlagenen“, Verlag Kurt D e s c h, München.

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