6563441-1949_21_11.jpg
Digital In Arbeit

„Wein, Wasser und Gesang“

Werbung
Werbung
Werbung

„Bin in Bradley bei Greenford. Wo soll ich sein?“ Das ist ein Telegramm, wie es wohl nur ein Chesterton an seine Frau schicken konnte. Wieder einmal ist er bei einer seiner Vortragsreisen mit einem einfachen Arbeiter ins Gespräch gekommen, einem Straßenkehrer vielleicht oder einem Zeitungsverkäufer; wieder einmal hat er sich mit Jim in eine der gemütlichen englischen Dorfkneipen gesetzt, hat mit ihm getrunken und gesungen und über Politik und Agrarreform und Himmel und Hölle disputiert und philosophiert, bis tief in die Nacht hinein, bis Jim von seiner Frau geholt wurde; wieder einmal hat er einen Menschen gefunden und darüber sein Publikum vergessen — immer ist er auf der Fahrt zum Menschen, der seine Heimat liebt und einen guten Schluck Bier und ein Trinklied und ein Spottlied und ein Preislied dazu. Und wieder einmal geht der 50jährige gefeierte Schriftsteller, eine massige Gestalt mit wildem Schnauzbart, mit Künstlerhut und ungebügelten Hosen, nicht ganz sicher und nicht ganz still zum Postamt, um bei seiner Frau anzufragen, wo eigentlich der Vortrag stattfinden soll.

Das ist Chesterton, wie er leibt und lebt. Und dieser Chesterton hat es nicht leicht, vor den Deutschen zu bestehen, diesem Volk der Dichter und Denker und Bildungsphilister. Er hat es aber auch bei den Engländern nicht leicht gehabt, zumindest bei seinem Lesepublikum, das diesen biertrinken- den Liedersänger mit dem Künstlerschopf als Bohemientype mißdeutete, er hat es nicht leicht gehabt vor allem beim Kreis der „Hochgeistigen", die seine Paradoxe um ihrer selbst willen lasen als Kitzel für verwöhnte Gaumen. Aber nie, so bekräftigt er selber schon früh, hat er etwas Witziges gesagt, bloß weil es witzig klang, und in späteren Jahren kämpft Chesterton immer wieder gegen die ästhetische Mißdeutung seines Werkes.

Sollte da dieser Sänger und Liebhaber der Welt nicht auch bei den heiteren Österreichern, sollte er nicht vor allem auf den rebenumkränzten Hügeln von Wien als „alter Drahrer“ mißdeutet werden? Klingt der Titel „Wein, Wasser und Gesang“ nicht ganz so, als ob träger Genuß sein Lebensziel bei Wein, Weib und Gesang suchte?

Chesterton ist vielfach mißverstanden worden, und vielleicht ist er daran nicht ganz ohne Schuld. Aber er wird auch heute noch mißdeutet, da er bereits lange tot ist und eine genauere Kenntnis seiner Schriften, vor allem der Autobiographie, eine echte Würdigung ermöglichen sollte. An seinem 75. Geburtstage ist es nicht mehr eine ästhetische Mißdeutung, aber' es besteht die Gefahr, daß er nun alzusehr als Kämpfer, als Sozialapolitiker und Ethiker gefeiert wird, daß der ganze Chesterton, der sein Leben lang gegen jede häretisch Verengung kämpfte, hinter einem Teil-Chesterton zu kurz kommt.

In drei Worten, dem Titel seiner Gedichtsammlung, die er als reifer Mann im Jahre 1915 herausgab, kann der ganze Chesterton erfaßt werden — „Wein. Wasser und Gesang“. In ihnen verbirgt ich eine Philosophie und eine Lebensaufgabe und die Erkenntnis menschlichen Seins. In ihnen spiegelt sich sein großer Kampf gegen die Häresien der Zeit, Imperialismus und Materialismus vor dem ersten Weltkrieg, und ge dankenlose, schrankenlose Genußsucht, die nach 1918 einreißt. In diesen drei Worten ist das Thema des 20. Jahrhunderts angeschlagen.

„Wein“ — das ist die Glorie des natürlichen Lebens, die purpurnen Sonnenuntergänge und der tolle Wind über den grünen englischen Wiesen, die. stürmische erste Liebe, Buntheit, Ritterlichkeit und Kampf, die Hochgemutheit eines Kavaliers, der niemals vornehm und steif und schwermütig war; Wein — das ist ein Gelächter über die graue Arbeitswut der Puritaner, Kampf gegen blasierten und bornierten Stolz, der in Herrenmenschen, Herrenvölkern, Herrenrassen globale Imperien bauen will; Wein — das ist Festlichkeit und Freude, kindliches Vertrauen und Hochgemutheit der Hoffnung.

„Wasser" — das ist die Verehrung des Kleinen und Unscheinbaren, die Ehrfurcht vor Gras und Gänseblümchen, die Verteidigung noch des Trivialen und Possenhaften, Gespräch mit Straßenkehrern und Zeitungsverkäufern, mit dem Menschen Jim, der ihm „verkleideter König" ist; Wasser — das ist Ehrfurcht vor angestrengter ehrlicher Arbeit, die sich werktags müht und plagt, vor dem Schluck Wasser und dem Bissen Brot, Wissen um Beschwerden und Schweiß und Tränen der Menschen; Wasser — das ist Arbeit und Mühe, männliches Sorgen und Vorausschauen und Demut der Hoffnung…

„Gesang" — schließlich — er ist es, der Wein und Wasser, Hochgemutheit und Demut, Farbentrunkenheit und Ritterlichkeit und Einfachheit und Treue, Kindsein und Mannsein bestärkt und' belebt und aufhebt vor ein Höheres; Gesang ist es, der das Paradox von Wasser und Wein nicht zu einem Gemanscht werden läßt, Gesang macht den Wein funkelnder und feuriger und stärker, Gesang macht den Trunk aus der Quelle frischer und kühlender und belebender; Gesang, das ist Rühmung Gottes, und der große Sänger ist zugleich ein Heiliger.

Das ist Chestertons Geheimnis — das Paradox von Wein und Wasser, sein vielgerühmtes, vielgeschmähtes, sein mißverstandenes Paradox: das Hohe und das Tiefe, das Große und Kleine in ihrem Wesen zu bestärken vor einem Höheren, Orthodoxie gegen häretische Verengung, Anerkennung Christi als wahrer Gott und wahrer Mensch. ' Als Sänger ist Chesterton auch Kämpfer: wo die natürlichen und übernatürlichen Tugenden gepriesen werden, dort tobt der Kämpf gegen die sieben Todsünden. Aber sein Kampf war nie bloß negativ — immer ging es ihm um die Befreiung des „verkleideten Königs“ Mensch, gegen übermenschliche und untermenschliche Erstarrung, gegen „sheepishness and shortwittedness“, das heißt gegen die schläfrige Schafsgeduld des Volkes, das sich von wenigen Mächtigen und ihren bezahlten Agenten einschüchtern und kommandieren läßt, und gegen jene Kurzsichtigkeit, die sich im selbstmörderischen Genuß des Augenblicks aufgibt. Es ist ein Kampf für den Menschen und seine Freiheit gegen die anonymen Mächte, die mit allen Mitteln der Psychose und Hypnose, mit Zuckerbrot und Peitsche ihn zur Masse degradieren, zum Werkzeug machen wollen.

Der Name Chesterton und sein Sozialprogramm der kleinbürgerlichen Vermögensbildung treten in neuerer Zeit in den Werken der Volkswissenschaftler, etwa bei dem Schweizer Röpke, immer stärker hervor. Aber es geht bei Chesterton um mehr als um Ent- proletarisierung, wenn auch sie die erste Stufe zu einer europäischen und damit christlichen Erneuerung ist: es geht um den ganzen Menschen, an dem auch das Religiöse Anteil hat. Er will den Menschen wieder in seine Rechte als königlichen Herrn der Schöpfung einsetzen, aber darüber hinaus ihn zum Kind Gottes machen. Er, der selber nach einem langen Weg Kaholik wurde, er weiß, daß alles Mühen die Gnade braucht, daß alle Hochgemutheit nichts nützt ohne Demut, daß die perfekte Demokratie und die Erziehung zum sozialen Menschen unerreichbare

Ideale sind, Bauten über vulkanischen Tiefen. Denn der Mensch ist tief, und tiefer sein Herz, aus dem das Böse kommt Chesterton vergaß als reifer Mensch über dem Dogma der Schöpfung nie das Dogma von der Erbsünde. Ein nur vom Menschen her begründeter ethischer Humanismus, und mag er noch so viel Tiefenpsychologie treiben, weiß nichts vom Tiefsten des Menschen, von den Abgründen der Sünde.

Der Sänger der Hoffnung als Paradox von Hochgemutheit und Demut, der Kämpfer gegen „Müdigkeit und Anarchie“, der große Katholik und Europäer Chesterton ist trotz allem bei uns noch viel zu wenig bekannt. Die Pater-Brown-Geschichten werden übersetzt und gelesen, seine Aufsätze sind immer wieder Quell der Kraft und Freude — aber nur für wenige. Und es ist nicht einfach, diesen stark verwurzelten Baum in anderes Erdreich zu verpflanzen. Aber es kommt wohl darauf an, eine kleine, aber treffliche Auswahl zu bringen, in der viele irrisierende Lichter des Artisten und noch mehr die tagesgebundenen Wortspiele des Journalisten und die eleganten Finten des Fechters fehlen müssen, in der auch viel Inniges des Dichters fehlen muß — iij der aber doch das Paradox Chestertons, das Geheimnis dieses Großen zu spüren ist, welches ist: klarblickender, kühner Mann zu sein und doch spielend-ver- spieltes Kind; treuer und rastloser Arbeiter und doch Tänzer bei den hohen Festen; kämpfender Tagesschriftsteller und doch gewaltiger Sänger; Weltkind mit offenen Sinnen und scharfem Verstand und doch dogmengläubiges Glied der heiligen Kirche; kurz: das zu leben in voller Kraft, was das Evangelium bezeichnet mit den Worten: „Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben!“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung