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Welt im Widerschein

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Gertrud Kolmar: DAS LYRISCHE WERK. Kösel-Verlag, München 1960. 622 Seiten. Preis 29.80 DM.

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Gertrud Kolmar: DAS LYRISCHE WERK. Kösel-Verlag, München 1960. 622 Seiten. Preis 29.80 DM.

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Zu den bedeutsamsten verlagsgeschichtlichen Ereignissen der letzten Zeit gehört zweifellos die Publikation des lyrischen Werkes Gertrud Kolmars. Obwohl das Gesamtwerk dieser genialen deutschen Jüdin bereits 1945 im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erschien und — auch das ein Ereignis! — nach kurzer Zeit vergriffen war, ist diese große Dichterin auch heute noch breiten Leserkreisen, denen sie viel zu sagen hätte, nahezu unbekannt. So füllt die von Friedhelm Kemp besorgte, um 24 nachgelassene Gedichte vermehrte, Neuausgabe des Werkes von Gertrud Kolmar eine Lücke aus, für deren Schließung wir dankbar sein müssen. Diese Dankbarkeit gilt auch dem Nachwort, in dem Hilde Wenzel, Gertrud Kolmars Schwester, uns Einblick gewährt, in das private Dasein der DichteririV'däs in bewußter Zurückgezogenheit, ja ausgesprochener Scheu vor der Öffentlichkeit, verlaufen ist. Gertrud, die mit ihrem bürgerlichen Namen Chodziesner hieß, wurde 1894, als Tochter eines bekannten jüdischen Strafverteidigers, in Berlin geboren. Sie verlebte in ihrem Elternhaus eine stille, geborgene Kinder- und Jugendzeit, bis ein frühes, unglückliches Liebeserlebnis diese freundliche Entwicklung jäh unterbrach. Aber gerade diese bittere menschliche Erfahrung, die Versagung ihres Wunsches nach einem einfachen, Mann und Kindern gewidmeten Frauendasein, entband Gertrud Kolmars schöpferische Kräfte, ließ sie zu einer der größten Lyrikerinnen des deutschen Sprachraumes werden. Äußerlich ganz im Kreis ihrer Familie geborgen, aber in tiefer innerer Einsamkeit, aus der sie sich gar nicht zu lösen versuchte, verströmte sie ihre reiche Phantasie in ihre Dichtung. Es entsteht der ergreifende Zyklus „Kind", in dessen Liedern sie die Erfahrungen, die ihr in der Realität versagt blieben, gültig gestaltet: Empfängnis, Geburt und Aufwachsen eines Sohnes. In leidenschaftlicher Sehnsucht werden hier — in einer imaginären Welt — nie erlebte, und doch ganz wahr und echt, Geschehnisse beschworen, die, erschütternd, dann plötzlich ins Unwirkliche zer- flattern:

„O Vogel du! O Kind! O Wahn! Mein. Wei! ich nie geboren.“

Oder an anderer Stelle der Aufschrei: „Ich spreche irr. Mein Dunkel ruft dich mir.

In meinem Tage bist du nicht.“

Andere Themenkreise tauchen in Gertrud Kolmars Dichtung immer wieder auf. Natur und Kreatur — ihre „Tierträume“ sind Wunderwerke einer, man möchte sagen visionären Einfühlungsgabe; Motive aus der Geschichte und Mythologie der alten Völker, der östlichen Kulturen, der Französischen Revolution. Ein Zyklus gilt alten preußischen Wappenbildern, dessen Gedichte eine merkwürdige Entstehungsgeschichte haben — sie wurden durch Reklamebilder der Firma Kaffee Hag angeregt! Aber was gestaltet Gertrud Kol- mar aus solchen Vorlagen, wie vermag sie es, jeweils an dem äußeren Motiv einen unendlichen, tiefsinnigen Hintergrund zu erwecken. Ein anderes immer wiederkehrendes Thema ist die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, zu der Gertrud Kol- mar selbst ihr Teil beigetragen hat. Sie wurde, nach einer Zeit der Zwangsverpflichtung in einer Kartonagefabrik, 1943 deportiert und ist auf dem Weg in eines der Vernichtungslager des Dritten Reiches verschollen. Hilde Wenzel veröffentlicht in ihrem Nachwort Briefauszüge aus der letz ten schweren Zeit ihrer Schwester. Man scheut sich, Einzelheiten über dieses dunkle Kapitel zu erwähnen — der Leser muß sich dieser Heimsuchung und ihrer Bewährung selbst stellen.

„Glaube mir, daß ich, was auch kommen mag, nicht unglücklich, nicht verzweifelt sein werde, weil ich weiß, daß ich den Wege gehe, der mir von innen her bestimmt ist. .. So viele von uns sind ihn, die Jahrhunderte hindurch, gewandert, warum sollte ich ihn anders gehen wollen als sie . ..“

schreibt Gertrud Kolmar in einem ihrer letzten fir menschlicHjerRahg ent- jpridhĄ hrer literarischen Leistung. Sie ge- nör , neben Else Lasker-Schürer und Nelly Sachs, zu den großen Vertreterinnen der deutsch-jüdischen Dichtung. Ihr ganz aus der Imagination gestaltetes Werk birgt unvergängliche Kostbarkeiten, über die man nur unvollkommen berichten kann, die man sich selbst in der Lektüre erschließen muß. Nach dem Erfolg der ersten Ausgabe von Gertrud Kolmars" Lyrik darf man hoffen, daß das Buch auch heute wieder seine Leser finden wird, die es lieben und verstehen.

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