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Digital In Arbeit

Wie ich komponiere

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GAVOTY: Wenn Sie gestehen, daß die Arbeit Ihnen leicht fällt, erwecken Sie beim Publikum die Meinung, daß Ihnen keinerlei Verdienst gebührt. Wenn Sie ihm sagen, daß es Ihnen an Leichtigkeit gebricht, so denkt es. Sie seien unbegabt.

HONEGGER: Von meinem rein persönlichen Standpunkt aus möchte ich Ihnen sagen, <feß ich Komponisten wie Milhaud und Hindemith bewundere und beneide, denen die Arbeit so leicht fällt, daß sie in unaufhörlichem Flusse schreiben. Zwar hat Georges Auric in diesem Punkte eine sehr bestimmte Unterscheidung gemacht: „Es gibt“, sagte er, „Komponisten, die eine schwere Musik leicht, und andere, die eine leichte Musik schwer schreiben.“ Was mich betrifft, so machen mir die sinfonischen Werke viel Mühe; sie verlangen eine ununterbrochene Konzentration der Ueberlegung. Sobald ich mich hingegen auf einen literarischen oder sichtbaren Vorwurf beziehen kann, fällt mir die Arbeit viel leichter.Es wäre mein Traum gewesen, nur Opern zu schreiben; vergebene Mühe in einer Zeit, da die Oper im Begriffe steht, zu verschwinden.

GAVOTY: Es bleibt die Filmmusik.

HONEGGER: Ich habe mich ihr aus verschiedenen Gründen verschrieben. Sie fällt mir ziemlich leicht, da ich über die nötige Technik verfüge, um rasch eine Orchesterpartitur zu schreiben. Anterseits wird mir der Vorwurf durch das Bild geliefert, das mir sofort die Umsetzung ins Musikalische eingibt.

G.: Gehören Sie zu diesen Komponisten, von denen man im Vertrauen behauptet, daß sie den ganzen Tag den Kopf voll Musik haben und deren Gehirn automatisch jede sichtbare, fühlbare, riechbare Nahrung in Töne umsetzt?

H.: Das ist nur eine Frage der Gewöhnung. Wenn man mir ein Drehbuch zu einem Ballett oder zu einem Film vorlegt, fällt mir — auch wenn ich den Eindruck habe, der Plan werde nie ausgeführt — sehr rasch die Musik ein, ii$ zu der oder jener Stelle paßt.

G.: Ist wohl in Abwesenheit jeglicher. Reizung Ihrer Erfindungsgabe Ihr Gehirn ewig von einer Sinfonie bewohnt?

H.: Nein, Gott sei Dank! In Wahrheit gehe ich folgendermaßen vor: Ich suche zuerst die Konturen, den allgemeinen Umriß, sagen wir zum Beispiel: ich sehe in einem dichten Nebel etwas Palastähnliches sich abzeichnen. Durch Ueberlegung zerteilt sich nach und nach der Nebel und erlaubt mir, etwas heller zu sehen. Manchmal fällt plötzlich ein Sonnenstrahl auf einen Flügel des im Bau begriffenen Palastes, dann wird dieser Teil mir Vorbild. Wenn nach und nach der Umriß ins Licht gestiegen ist, gehe ich auf die Suche nach meinem Baumaterial. Ich sehe meine Notizbücher durch...

G.: Sie machen Notizen?

H.: Gedalge hat mir diese Gewohnheit beigebracht. Sobald mir ein Motiv, ein Rhythmus, ein ganzes Thema in den Sinn kommt, schreibe ich es auf. Kennen Sie Beethovens Skizzenbücher? Ohne eine vermessene Parallele ziehen zu wollen, muß ich gestehen, daß ich in der gleichen Weise vorgehe und dies auch meinen Schülern empfehle. So schlage ich also in meinen Skizzenheften nach, in der Hoffnung, eine melodische Linie, eine rhythmische Formulierung oder Verbindungen von Akkorden zu finden, die mir nützlich wären. Manchmal meine ich, das gefunden zu haben, was ich suche, und setze mich an die Arbeit. Oft bin ich auf falscher Fährte. Und wie der Lumpensammler nehme ich dann meinen Sack wieder auf den Rücken und mache mich auf die Suche nach besserem Material. Dann fange ich von neuem an. Ich lasse eine melodische Linie ausreifen und gehe allen verschiedenen Wegen nach, die sie mir öffnet. Wieviel Enttäuschungen! Man muß den Mut haben, drei-, vier-, fünfmal neu anzufangen . .. Das ist die Definition des Talents, wie ich sie bei einer Umfrage einmal gab: „Der Mut, immer wieder anzufangen.“ Manchmal liefert ein sehr nebensächlicher Einfall den Schlüssel zur Lösung des Problems. Diesen Rhythmus oder jenes Motiv, die mir banal erschienen, sehe ich plötzlich in ihrem richtigen Licht, sie fesseln mich, und ich weiche keinen Finger breit mehr von ihnen ab.

G.; Sie arbeiten also viel?

H.: Und sehr mühsam, glauben Sie mir!... Ich bin wie eine Dampfmaschine: ich muß angeheizt werden, ich brauche lange Zeit, um mich auf die wirkliche Arbeit einzustellen. Wenn ich einen ganzen Monat untätig bin, so brauche ich Tage und Wochen, um die Maschine wieder in Gang zu setzen. Mit zunehmendem Alter wird dieses In-Gang-Bringen immer schwieriger. — Ich bin ein sehr gewissenhafter Mensch: da liegt das Unglück .. .&#9632; Natürlich betrifft all das nur die ernsthafte Arbeit, zum Beispiel die Komposition einer Sinfonie. Wenn es sich um Filmmusik handelt, so genügt mir eine Vorführung, um mich an die Arbeit zu machen: das Bild steht noch ganz frisch vor meinen Augen. Je näher der Film meinem Gedächtnis ist, desto leichter geht mir die Arbeit von der Hand: wichtig ist, ganz frische Eindrücke unverzüglich zu verarbeiten.

G.: Genau der gleiche Unterschied besteht zwischen der Abfassung eines Artikels und der Gestaltung eines Romans. — In dem Dunkel, in dem Sie sich vorwärtstasten, erleben Sie doch manchmal die Gnade einer Erleuchtung?

H.: Ein vernünftiger Komponist findet die goldene Mitte zwischen Prosa und Poesie, zwischen der Arbeit und dem, was Sie Inspiration zu nennen belieben. Man kann sie nicht ködern, aber man muß sie aufnehmen können, wenn sie kommt.

G.: Können Sie uns einen dieser glücklichen Momente beschreiben?

H.: Ja — aber Sie werden enttäuscht sein. Ich bin ein unsicherer Mensch, und wenn ich mich in der Freude über einen Einfall sonne, so flüstert mein Schutzengel mir ins Ohr: „Das ist nicht möglich ... es ist eine Reminiszenz... oder ein glücklicher Traum ... das wird alles zusammenstürzen... Diese acht Seiten haben so viel Mühe gekostet — und nun sollten es auf einen Schlag sechzehn sein!“ — Stellen Sie sich einen Goldsucher vor: seit dem frühen Morgen hämmert er im Gestein; er ist schweißgebadet, er kann nicht mehr, nie wird er etwas finden... und dann plötzlich: ein Goldklumpen; er traut seinen Augen nicht...

G.: So hat doch auch diese erschreckende Mühsal ihre glücklichen Augenblicke?

H.: Eine Mühsal ohne Erbarmen auf sich zu nehmen, dazu fänden sich, glauben Sie mir, nur wenige bereit! So mögen denn gewisse Illusionen erhalten bleiben! Man muß hart arbeiten, um diese glückliche Entspannung zu verdienen, man muß sehr klar sehen, um so weit zu kommen, daß man die Umwelt nicht mehr wahrnimmt, und viel Geduld und Ruhe aufbringen, um eine dieser kurzen Fahrten in das Reich der lebendigen Musik zu wagen.

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