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WIE KAM GRILLPARZERS HEFT NACH AGRAM?

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Verläßt man an einem Sommerabend den Wiener Zug in Zagreb, dem politischen, industriellen und kulturellen Zentrum der Volksrepublik Kroatien, so umfängt einen vielfacher Zauber. Zagreb ist dieselbe Stadt, die zur Zeit der k. u. k. Doppelmonarchie amtlich noch Agram hieß und so auf unseren Atlanten verzeichnet steht. Der Österreicher freut sich, wenn er in Zagreb auf Schritt und Tritt Ausstrahlungen der Heimat sieht, hat doch das Kroatentum seit einigen hundert (und zwar höchst entscheidenden) Jahren in enger Verbundenheit mit Österreich gelebt.

Zagreb — verzichten wir auf den Namen Agram, er trifft nicht mehr zu, wir haben der Stadt und dem Land viel mehr gegeben als Namen — ist eine große Stadt; westlich und latinisiert ist die Großlinigkeit der Straßen und Plätze vor dem Bahnhof; östlich das bunte Leben und der Lärm auf dem Bahnsteig. In einer Seitenstraße der Ilica, der lebhaftesten Straße dieser bunten Stadt, finden wir, was wir suchten: ein gutes Gasthaus, wo Zagrebs Bürgertum verkehrt Es heißt „Janje“, auf deutsch „Lamm“, und seine Speisekarte, die kroatisch und deutsch geschrieben ist, verheißt Beträchtliches. Rührend ist, daß auf der kroatischen Seite „Paradeis“ und auf der deutschen Tomaten steht... Der Kellner läßt sich Zeit, uns zu bedienen; daran muß man sich gewöhnen, wenn man diese Länder bereist. Eile beim Essen ist unfair und eine Sache, die man den Fremden nur ungern nachsieht; hier hat alles Zeit, und wozu steht der Broth- r neben der Weinkaraffe, mag das weiße Gebäck uns den ersten Hunger stillen, „ibogami“.

Bald kam ein alter Herr, setzte sich mit dem üblichen „Gestatten Sie“ an unseren Tisch und nannte seinen Namen: „Kučinié, Viktor Kučinié.“ Als auch wir uns vorstellten und sagten, wir seien aus Österreich, war er sehr erfreut, insbesondere, als wir alle feststellen, daß wir Hunger wie Wölfe hätten. In diesem Augenblick schrie eine aufgeregte Baritonstimme aus der Küche „Vruči“, die Tür flog auf und herein spazierte der mächtige Koch, in der Hand einen Bratspieß, an dem ein ganzes, frisch geröstetes Lamm brutzelte. Bevor es zerlegt wurde, mußten alle Gäste es bewundern; kroatische Tafelsitte! Sie hat etwas Patriarchalisches, wie überhaupt das Leben hier noch ungemein stark den alten Bräuchen verhaftet ist.

Während wir unser „Lämmernes“ aßen, erzählte unser Tischnachbar, daß am Spieß gebratene Lämmer, die auf dem ganzen Balkan als Luxusbissen gelten, auch in Zagreb zu den beliebtesten Speisen gehören, und es gebe ganze Gilden von Feinschmeckern, die als erfahrene „Janjičari“ täglich abends in den Zagreber Gasthäusern auf das Fertigwerden des knusprigen Bratens warten, um ihre Portion „Janjetina“ zu erhalten und mit gutem Wein zuzugießen. Als beste Qualität werden von den Adriainseln und aus der Lika stammende Lämmer betrachtet, die wegen der Gebirgsweide wohlschmeckender und feiner sind als Lämmer aus der Ebene.

Nach dem Essen führte ich mit dem Zagreber Viktor Kučinié, der — obwohl er kein Geschichtsforscher von Beruf ist — kleineren geschichtlichen Problemen mit ebensoviel Eifer wie Erfolg nachgeht, ein höchst angeregtes Gespräch, das sehr bald auf den letzten großen Dichter des Tragischen, den letzten Erben der Klassik, nämlich auf Franz Grillparzer kam, dem wir Österreicher es immerzu danken müssen, wenn wir neben den Großen von Weimar getrost in die Schranken treten dürfen. Kein Denker und Dichter hat in Österreich gelebt, der Glück und Leid unseres Landes tiefer, übersinnlicher, zeitloser und menschlicher erkannt, erfaßt und gestaltet hat.

Kučinié schnellte die Brille von der Nase, sah mich schmunzelnd an und berichtete mir, daß er vor vielen Jahren in Zagreb ein Schulheft Franz Grillparzers gefunden hat und nach vielen Mühen auch feststellte, wie dies Schulheft nach Zagreb gelangt ist. Kučinié fand dieses Schulheft ganz zufällig auf dem Zagreber Trödelmarkt, wo — wie überall — verarmte Leute ihre traurigen, aus besseren Zeiten stammenden Habseligkeiten verkaufen, um zu einigen Dinaren zu kommen.

Eine gebeugte alte Frau hielt neben einem Tschako aus Franz Josephs Zeiten, einem Paar Stiefel ohne Sporen, einem tintenbefleckten Lineal und anderen Dingen auch einige alte Bücher, Romanhefte und Papiermappen feil. Zwischen zwei Gebetbüchern vom kroatischen Schriftsteller Juraj Mulich Turopoljec lag da auch eine recht dicke Mappe, die die Aufschrift „Glossarium hist, geogr. Europaeum“ trug. In der Mappe befanden sich ungebunden zahlreiche lose Blätter, deren eine Seite lateinische und griechische Schulaufsätze enthielt, während die andere mit verschiedenen zumeist deutschen Notizen einer erwachsenen Hand beschrieben war. Man sah auf den ersten Blick, daß es sich da um Schulhefte von Gymnasiasten handelte, auf dessen unbeschriebenen Seiten ein Professor Notizen für eine wissenschaftliche Arbeit niedergeschrieben hatte.

Unter den Namen der Schüler auf den Schulheften, die aus den Jahren 1798 bis 1802 stammten — wenig später versank das Heilige Römische Reich, erstand der erste Kaiser von Österreich —, fand Kučinič neben Josephus Ender, Anton Hoffmann, Lorenz Strohmeyer auch Franciscus Grillparzer, dessen Heft für lateinische Aufsätze das Los der Hefte seiner Mitschüler teilte. Da Grillparzer gerade zu dieser Zeit das Gymnasium besuchte und die Innenseite der Mappe mit einem Bittgesuch beklebt war, das die vergilbte Aufschrift: „An den Herrn Präfekten des Annaischen Gymnasiums in Wien“ trug, war Kučinié überzeugt, tatsächlich ein Manuskript Grillparzers aus den Knabenjahren vor sich zu haben. Er kaufte deshalb von der armen Frau die Mappe und beschloß, seinen interessanten Fund näher zu untersuchen.

Von der alten Frau erfuhr er, daß die Mappe Eigentum ihres im ersten Weltkriege gefallenen Vaters war, der sie als Rechnungsunterofflzier im Keller des Gebäudes, in dem seinerzeit das Zagreber Korpskommando untergebracht war, zusammen mit den erwähnten Gebetbüchern gefunden und vor dem Vermodern gerettet hatte. Da dieses Gebäude ehemals ein Jesuitenkloster war, war es Kučinič gleich klar, daß diese Bücher ein Jesuitenerbe waren und auch die „Glossarium“-Mappe einem Jesuitenpater aus jener Zeit’ gehört haben mußte. Das „Glossarium“ mit den Blättern aus dem Schulhefte Grillparzers enthielt insgesamt 363 Blätter. Die Aufzeichnungen des Jesuitenpaters, der offenbar ein Professor Grillparzers in Wien war, stammen zumeist aus den Jahren 1804 bis 1810 und beziehen sich auf die Entstehung von etwa 70 Völkernamen und annähernd 30 Städtenamen. Der Autor bearbeitet besonders sorgfältig die slawischen Völker und zitiert oft auch den kroatischen Schriftsteller Pater Belostenec (1605 bis 1675). In seinen Aufzeichnungen erwähnt er auch einige eigene im Druck erschienene Werke.

Nun galt es festzustellen, wer der Autor dieser Notizen war und wie sein Manuskript, da es sich offenbar um einen Deutschen handelt, mit den Blättern aus dem Schulheft Grillparzers nach Zagreb gekommen war. Sonderbarerweise war unter seinen Aufzeichnungen nirgends auch der kleinste Hinweis zu entdecken, und auch die Nachforschungen bei den Zagreber wissenschaftlichen Einrichtungen und bei den Jesuiten brachten keinen Fingerzeig. Nun wandte sich Kučinié — dem es bekannt war, daß im Wiener Städtischen Museum eine besondere Grillparzer-Abteilung besteht — um Auskunft an die Leitung dieses Museums. Er legte seinem Schreiben einige vom Jesuitenpater beschriebene Blätter aus dem Schulhefte Grillparzers bei und erhielt schon bald eine zufriedenstellende Auskunft: die Handschrift und Unterschrift Grillparzers seien zweifellos echt. Der Autor der etymologischen Aufzeichnungen sei der gelehrte Jesuitenpater Wilhelm von Brink. Dieser sei zu Grillparzers Knabenjahren Präfekt des ehemaligen St.-Annen-Gymnasiums in Wien und Grillparzers Professor gewesen. Er wurde 1807 pensioniert. Die Namen der Mitschüler Grillparzers im Sankt- Annen-Gymnasium waren in der Erwiderung auf das Schreiben Kučinič’ ebenfalls angegeben und stimmten mit denen auf den Schulheften in Brinks „Glossarium“ überein.

Nun war auch das Geheimnis gelüftet, wie die Manuskripte Brinks und Grillparzers nach Zagreb gelangt waren. Da das „Glossarium“ im Keller des ehemaligen Jesuitenklosters gefunden und Brink im Jahre 1807 pensioniert wurde, erscheint es mehr als wahrscheinlich, daß er — bei seinem Interesse für slawische Völker und ihre Geschichte — seinen Lebensabend im Zagreber Kloster zu verbringen beschloß. Als der Jesuitenorden 1814 aufgelöst wurde, ist offenbar ein Teil der Bücher des vielleicht schon vor der Auflösung verewigten Paters im aufgelassenen Kloster zurückgeblieben, von wo sie zuerst in den Keller und schließlich auf den Trödelmarkt gelangten. Habent sua fata libelli...!

Es ist interessant, wie Pater Brink aus Wien in seinem „Glossarium“ die Entstehung des Volksnamens Kroat erläutert. Er leitet den Namen von den „Carpi“ oder „Carpiani“ ab, die im Karpatengebiet siedelten und im 7. Jahrhundert nach Dalmatien wanderten, wo sie einen Staat gründeten. Aus dem Worte „Carpat“ seien die späteren Bezeichnungen „Crowat“, „Krvat“ und „Horw;entstanden.

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