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Arthur Honegger

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Unter den zeitgenössischen Komponisten war Arthur Honegger, der 1892 als Sohn Schweizer Eltern in Le Havre geboren wurde und am 27. November 1955 in Paris starb, der am wenigsten umstrittene und einer der erfolgreichsten. Bereits 1921 erhielt seine „Pastorale d'ete“ auf Grund einer Publikumsabstimmung in St. Louis den ersten Preis. Im gleichen Jahre beendete er die Partitur seines kühnsten Werkes („Horace victorieux“) und schrieb innerhalb von zwei Monaten die Musik zu dem dramatischen Psalm „Le Roi David“, der in siebzehn Sprachen übersetzt und in fast allen Musikstädten der Welt — konzertant oder szenisch — aufgeführt wurde. Ein Viertel der 170 Werke, die Honegger hinterlassen hat, sind für das Radio und den Tonfilm bestimmt. Aber Honegger hat nie Konzessionen gemacht. Er stand in der vordersten Linie der „modernen“ Komponisten und wurde auch von den Fachleuten stets geachtet.

Honegger kam als jungen Mensch nach Paris und schloß sich hier der Gruppe der „Six“ an. Aber die von Cocteau und Satie bestimmte Aesthetik dieses Freundeskreises war nicht die seine. Daran hinderten ihn entscheidende musikalische Jugendeindrücke, die er von den Werken der deutschen Klassiker und Romantiker, von Strauss und Reger empfangen hatte. In Paris erfuhr er den Einfluß Debussys und Faures. Und er war sein Leben lang weder Anti-Wagnerianer noch Anti-Impressionist. — Honegger selbst bezeichnet einmal als sein deutsches Erbe „eine vielleicht übertriebene Neigung für polyphone Kompliziertheit“ sowie seine große Verehrung für die Kunst J. S. Bachs. Wir finden bei ihm, wie es damals Mode war, auch keine Absage an die große Symphonieform. Die Gefahr ihrer Hypertrophie hat er aber klar erkannt und versuchte, ihre Dimensionen auf ein normales Maß zurückzuführen.

Honegger wollte keinen Bruch mit der Vergangenheit, mit der Tradition. Die weise Anwendung der alten Mittel schien ihm schwerer, aber auch fruchtbarer, als jede verwegene Willkür. Es sei unnötig, Türen einzudrücken, die man öffnen kann. Daher war Honegger auch für die Lehre Schönbergs und seiner' Schüler unempfänglich. Aber die Festlegung der Tonali-tät, wie sie etwa Vincent d'Indy noch lehrte, schien ihm ebenso unverständlich. Das Dogma der Tonalität galt für ihn als ebenso überholt, wie das der französischen Klassiker von den drei Einheiten des Dramas. Was einem Musikstück, meint Honegger, die Geschlossenheit gibt, ist die Gesamtheit der melodischen und rhythmischen Beziehungen, die alle viel stärker wirken als die Tonalität. — Beim Komponieren befolgt Honegger gewisse Regeln, er wendet sozusagen bestimmte Rezepte an, von denen er in den Rundfunkgesprächen mit Bernard Gavoty einige freimütig preisgegeben hat. Man könne, so meint er, dem Publikum, etwa an harmonischen Härten und kontrapunktischen Komplikationen, allerlei zumuten. Aber die Anlage, die Form eines Werkes müsse immer klar erkenn bar sein. Unbedingt zu vermeiden Ist „der klangliche Sumpf, dessen Ufer das Publikum nicht mehr sieht und in den man rasch versinkt“.

Verschiedene sehr hohe und zum Teil auch seltene Qualitäten bedingen nicht nur den Wert, sondern auch die Wirkung von Honeggers Musik. Das sind, neben der klaren Anlage und den guten Proportionen, innere Fülle, Reichtum, Lyrismus, kräftige, aber differenzierte Farben und eine sehr charakteristische Sonori-tät, die durch kräftige Baßgrundierung erzielt wird. Und da sind — nicht zuletzt — Honeggers große Themen: die allgemein interessierenden Sujets seiner Bühnenwerke und Oratorien, und die „programmatischen“ symphonischen Werke. Einige von ihnen wurden zu Zug- und Repertoirestücken in den Konzertsälen der ganzen Welt.

Weltberühmt wurde Honegger mit einem „Mouvement symphonique“, dem er den Titel „Pacific 231“ gegeben hat. Damals, zu Beginn der zwanziger Jahre, in der ersten Zeit der großen Sport- und Maschinenbegeisterung, bekannte Honegger, daß er immer schon Lokomotiven geliebt habe, und er wolle in diesem Siebenminutenstück .zwar nicht den Lärm, wohl aber den visuellen Eindruck und den physischen Genuß in Musik setzen, den uns ein Eisenbahnzug bereitet, der mit seinen 300 Tonnen Gewicht bei einer Stundengeschwindigkeit von 120 Kilometer durch die tiefe Nacht rast. „Als Vorwurf wählte ich eine Lokomotive vom Typ Pacific, Modell 231, für schwere Schnellzüge.“ — Viele Jahre später, als der „Pacific 231“ immer noch durch die Konzertsäle der Welt brauste (denn jeder mußte dieses beleidigend sensationelle, skandalöse Stück wenigstens einmal gehört haben, um über den Verfäll der Musik mitschimpfen zu können), erklärte Honegger, es habe sich um eine kleine Mystifikation gehandelt. Es habe ihn die Aufgabe gereizt, ein Stück zu schreiben mit einer mathematischen Beschleunigung des Rhythmus, dessen Bewegung sich gleichzeitig verlangsamt, und er habe dies in der Form eines figurierten Chorals getan, in Anlehnung an das große Vorbild J. S. Bachs. Und alle sind ihm drauf hereingefallen, denn sein drittes „Mouvement symphonique“, zu dem ihm kein so zugkräftiger Titel mehr eingefallen ist und das mindestens ebensogut sei wie der „Pacific“, führe ein Dornröschendasein ...

Nach einer Reihe von Oratorien, die wiederholt auch szenisch dargestellt wurden („Anti-gone“, „Phaedra“, „Judith“, „Le Cris du monde“) hatte Honegger nach 1945 einige besonders nachhaltige und in die Breite wirkende Erfolge mit zwei Bühnenwerken, die in Zusammenarbeit mit Paul Claudel entstanden sind: „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ und „Totentanz“ sowie mit der „Symphonie liturgique“. In ihnen spricht er — selbst ein Leidender, dessen letzte Jahre von unheilbarer Krankheit verdüstert wurden — die Leiden und Schrecken unserer Zeit aus. Ihre Bedrängnisse und ihre Aengste, aber auch ihre Sehnsucht nach dem Absoluten, ihre Hoffnung auf Erlösung. Zutiefst beunruhigt durch das Leid der Menschen, mitleidend, hat Honegger hier ganz neue, ergreifende Töne gefunden, aus denen spätere Generationen — wie immer sie den absoluten Kunstwert dieser Werke einschätzen mögen — die Stimme unserer Zeit hören werden.

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