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Aus dem Tagebuch eines Schriftstellers

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18. Juni 1945 (Montag)

Literatur und Schrifttum. Oft lieg’ ich ein paar Pferdelängen hinter Gütersloh. Heut’ erst wird mir die Trennung zwischen „Literatur" und „Schrifttum“ zur flagranten Frage, seh’ ich die Notwendigkeit einer Abgrenzung „literaturkirchlicher“ Art von einem Terrain, das andauernd üblen Geruch entsendet hat, also ungefähr die profundeste Art von Störung, welche es überhaupt geben kann: schon vor 1933, aber in den folgenden Jahren mit verstärkter Intensität. Gleichzeitig damit wurde dann das Wort „Schrifttum“ wie eine Parole ausgegeben: und damit hatte sich die Erscheinung selbst eingeholt, benannt und bekannt. Heute kann sie überblickt werden, und zwar als ein Specificum im deutschen Sprach- raum. Denn wenn man sich etwa an den Rand der französischen Literatur stellt, so geht’s da gleich steil, ja schon beinah senkrecht hinunter zu irgendwelchen ehrbaren Romanen und deren Lesern und Leserinnen. Im Deutschen aber beginnt jenseits des Randes sogleich ein Terrain, das sich zunächst nur durch eine veränderte Neigung zu erkennen gibt — auf die es allerdings hier ganz wesentlich ankommt.

19. Juni 1945 (Dienstag)

Literatur und Schrifttum. Zum vorigen noch dieses: jedermann von uns unterscheidet „Schrifttum“ und „Literatur“ schon nach dem Genuß ganz kleiner Proben; aber kaum einer wird imstande sein — außer Gütersloh —, die Grenze zwischen den so unglückselig benachbarten Gebieten definitorisch dermaßen zu sichern, daß auch wirklich nicht ein einziges Wagerl mit Konterbande hindurchrollen kann. Nun, vorläufig einmal herrscht da noch lebhafter Grenzverkehr mit Kurzstreckentarif des Geistes: und das obwohl Karl Kraus schon lange vor dem ersten Weltkrieg von 1914 sich durch den merklichen üblen Geruch, der da immer aus der gleichen Gegend kam, belästigt fühlte. Er schrieb ihn den „Staackmännern“ zvji und hat ihn also damals richtig lokalisiert. Jedoch Karl der Große hat uns nichts Definitorisches zur Sache hinterlassen, er hat das Phänomen lediglich als erster aufgezeigt und beschrieben. Immerhin, seither wissen wir, daß hier eine an den verschiedensten Stellen — ja selbst auf Inseln, die für den flüchtigen Blick ganz abseits davon liegen — auftauchende in sich gleichartige Erscheinung ihr vielleicht unausrottbares Dasein stets von neuem manifestiert

5. August 1945 (Sonntag)

Ich bin gewiß, daß der Himmel den nicht verderben läßt, sondern nur fruchtbar scheitern (wie Jaspers es nennt), der entschlossen ist, jederzeit die eigene Brust zu öffnen, wenn es taut. Wenn wir nur der Apperzeptions-Verweigerung der Dummheit, dem Nichts also, dem sich festkrallenden Störrisch-Direkten, der künstlichen Taubheit ein für allemal absagen, die Hände, welche embryo-artig im Krampf die Augen bedecken, sinken lassen: ich glaube, daß dieses unser metaphorisches Opfer Kraft genug hat, selbst das Schlimmste, was wir so auch über uns erfahren, ins Metaphorische zu wenden; denn unsere Kraft dem Gesehenen gegenüber, dem wir sehend standhalten, wächst eben gerade durch dieses Sehen genährt.

Grillparzern aber, ich fühl’s, half das schlechthin Katholische in ihm, das er oft, mehr unfreiwillig, bekannt, noch öfter freiwillig bekämpft. Ich möchte von G. fast sagen, er sei mehr Katholik gewesen als gläubiger Christ, aufgeklärte katholische Substanz, aller Voraussetzungslosigkeit offen, die einen großen Schriftsteller nun einmal auszeichnen muß, zur Bildung begabt und vor der Halbbildung bewahrt durch jenen unverlierbaren Urgrund. Die Metastasen der Kirche sind ihr Schönstes. Nun, jedermann wird am Rasendufte, am offenkundigen, sich mehr berauschen, denn an der Gartenerde und ihrem strengen Geruch, den ioh aber geheimnisvoller finde.

Katholische Erziehung gibt einen uneinholbaren Vorsprung. Ich weiß es leider, da ich eine solche nicht erfahren habe. Die Erlösungsfähigkeit des Menschen als eine Gewißheit von früh an eingesenkt, läßt seine Erlösungsbedürftigkeit als selbstverständliche Voraussetzung daneben stehn. So kommt einer den Brüchigkeiten des eigenen Charakters gegenüber und seinem periodischen Versagen bei wiederkehrenden Anlässen nicht so leicht in die unfruchtbare (und hoffärtige) Stellung des direkt Bessem-Wollens: dessen Position ist die der Halbbildung. Von dieser ließe sich auch ganz einfach sagen, sie sei nichts weiter als ein zu schwaches und unanschauliches Wissen von der Organik des Lebens. Halbbildung ist eine Form der Dekrepidität.

Grillparzer erträgt sich selbst, wenn schon nicht in Liebe, wie wir nach den Worten des heiligen Paulus den anderen Menschen ertragen sollen, so doch in Geduld und ins Unabänderliche seines Charakters gefügt, den er überblickt und erkennt. Hätt’ er ihn übrigens für veränderungsfähig gehalten, dann wär’ er nicht jener große Dramatiker geworden, als den wir ihn bewundern.

An irgendeiner Stelle seiner Prosa sagt Grillparzer, er sei ein katholischer Dichter. Ich vermag diese jüngst gelesene Stelle jetzt nicht mehr aufzufinden. Amüsant sind seine ewigen Indispositionen (besonders auf Reisen), wenn man dabei an Hugo von Hofmannsthal denkt. Der von Tüchtigkeit und Tätigkeit dampfende Stefan George wär’ übrigens für Grillparzer ein ebensolcher Wauwau gewesen wie er es im Grunde stets für Hofmannsthal war. Beide waren lie-

benswerte grantige Österreicher.

Die Berührung mit Grillparzer hat, das möchte ich am Ende nicht unerwähnt lassen, mein so lange bestandenes Vorurteil gegen das Theater, die dramatische Form und die Schauspielkunst in kürzester Zeit zerschlagen und verflüssigt.

Also werd’ ich wohl von nun an, wenn auch grantig, ins Theater gehn, so bald das wieder einmal möglich wird.

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