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Digital In Arbeit

Aus dem Tagebuch eines Zeitgenossen

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Neulich kam ich müde und ausgefroren heim. Ich war glücklich, daß mein winziges Kämmerdien, das ich jetzt bewohne und das ich mir so gemütlich eingerichtet habe, geheizt war. Nachdem ich gegessen und che Hausschuhe angezogen hatte, war all Müdigkeit wie weggeblasen und ich fühlte mich wohl wie seit langem nicht.

Auf dem Tische fand ich die Post. Lauter uninteressante Sadien, bis auf einen Brief eines Freundes, der durch mehrere Demarkationslinien von mir getrennt ist. Auf sein langes Schweigen hatte ich ihn schon tot geglaubt. Das Schreiben war mir doppelt widitig, weil ich mit diesem Freunde seit anderthalb Jahrzehnten versucht hatte, unsere Zeit zu deuten. Aber wir waren nie übereingekommen. Ich neige zu einer gemütlicheren Auffassung der Dinge, und er sieht gleich alles im Lichte der Apokalypse. Er hatte schon lange gesagt, daß wir in eine Nacht eintreten, in der alle Sterne verblassen. Die gemütliche Zeit sei wahrscheinlich für immer vorbei ond bleibe nur alt ein Traun isn Herzen der Menschen, die deutlich spüren, daß wir in die größte Krise der Weltgeschidute, in ein Zeitalter fürchterlicher Katastrophen eingetreten seien. Er hatte vom Zeitalter der Weltkriege gesprochen, als der zweite noch gar nicht sichtbar war. Geistig wäre die Menschheit, im besonderen die europäische als einzige, in der eine große geistige Tradition lebendig war, erschöpft; sie hätte alle Fragen durchdacht und wäre von Gott weit weg gekommen. Es hätte eine unerhörte Organisation des Bösen begonnen, die Situation spitze sich immer mehr zu, es gehe um die letzten Entscheidungen, kurz und gut, wir stünden vor der Apokalyse. Ich hatte ihm heftig widersprochen. In der Apokalypse leben wir schon, aber der letzte Tag sei noch weit. Und so schnell verlauf; die Entwicklung nicht, es seien starke Reaktionen, retardierende Momente fällig. Ich dädite nur an die nächsten fünfzig Jahre, die für mich allenfalls noch in Frage kommen. Wir seien müde, drum müsse noch eine stille Zeit kommen, einige schöne Spätsommertage der Menschheit, vielleicht mit aller Wehmut, aber auch mit aller Schönheit dieser Tage. So hatten wir um 1935 gesprochen. — Der Krieg, der folgte, schien ihm recht zu geben. Die letzten Dinge würden aufgerührt, schrieb er mir in seinem letzten Briefe aus den Trümmern einer zugrunde gehenden Stadt. Dann hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Bis heute der Brief kam. Ich hatte ihn schon geöffnet, zögerte aber noch mit dem Lesen und überlegte, wie sich jetzt unser alter Streit darstellen würde. Meine Sehnsucht nach der Idylle ist jetzt größer als je. Ich will nicht an den Schrecken der jüngsten Vergangenheit denken, sondern mit hellen Augen in die Zukunft schauen. Ich möchte , einige schöne Jahre vor- mir haben, frei von den ärgsten Sorgen. Ich will wieder ruhig lesen können, ich möchte noch einige schön Plätze dieser Erde ansehen und viel von den Schätzen unserer großen alten Kultur erleben. Und was würde er sagen?“ Er hatte doch immer so getan, als würden wir in dem Wirbel, den er richtig vorausgesehen hatte, zugrunde gehen, und siehe da, beid leben wir. So hatte ich auch wieder recht, obwohl ich seinen Einwand spürte: Du mußt doch aufs Ganze sehen und nicht bloß auf dein kleines Schidcsal, welche Entscheidungen schon gefallen sind, daß die alte Gemütlichkeit hinter uns liegt.

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