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Die OLrleigen der Kritik

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Man ohrfeigt oder wird geohrfeigt von Geburt an. Es gibt Menschen, von denen man immer behaupten wird, sie hätten Ohrfeigen bekommen, wenn sie welche ausgeteilt haben, und andere, von denen man immer reden wird, sie hätten eine ausgeteilt, wenn sie in Wirklichkeit selbst eine bekommen haben. Nicht Ungerechtigkeit, noch Haß, noch Intrige setzt man der Arbeit des Schriftstellers entgegen. Es ist vielmehr eine Verschwörung des Lärms, so, wie es eine Verschwörung des Schweigens gibt. Man könnte glauben, daß die Schwierigkeiten, die der moderne Autor dem Verstehen bereitet, die Kritik bis zum Schreien reizt. Aber dieser Schrei ist zu einem Reflex geworden. Er hat sich selbstherrlich an die Stelle des Studierens gesetzt. Ueberall scheut man die Mühe. Man stutzt und schreit einfach auf. Dieser Schrei, der den Autor nicht beleidigen kann, erinnert an jenes Lachen, mit dem das Publikum seine Ueberraschung ausdrückt, selbst wenn sie dramatisch ist, denn die Masse kann nur lachen oder weinen.

Früher stand jeder Künstler dem Schweigen gegenüber. Heute schlägt dieses Schweigen einen schrecklichen Lärm. Alle mischen sich in alles. Der Fehler liegt wahrscheinlich bei den Enzyklopädisten, die sich beklagten, daß Bäcker über sie urteilten. Diderot erzählt davon. Das ist seltsam, weil sie ja die Elite getötet haben und für alle das Recht zu denken forderten. Daraus muß man folgern, daß heute selbst die Dummheit denkt. Das gab es noch nie. In Paris glaubt ein ganzer Theatersaal, daß er es besser machen würde als der Autor und daß er viel besser spielen könnte als die Schauspieler.

Heute gibt es keine Zuschauer, keine Zuhörer und keine Leser mehr, es gibt nur noch Richter, eine Unmenge Individualisten, zur Massenhypnose ungeeignet, ohne die ein Schauspiel und ein Roman keinen Sinn haben. Dieser Zustand schwindet, sobald das breite Publikum uns zuströmt. Es hat bezahlt und will sich über das Schauspiel freuen oder mitleiden. Also nicht das breite Publikum schuldige ich an, sondern diese un- gemein große, falsche Elite, die sich zwischen die Masse und den Künstler geschoben hat. Da sie nur von Mode leben, diese berufsfremden und unberufenen Kritiker, erklären sie ein Schauspiel für unmodern, sobald es sich gegen das auflehnt, was sie für Mode halten. Weiß Gott: alles ist unmodern, was sich weigert, den Geboten der Dummheit zu folgen. Der Unterschied ist, daß 1930 dieses Publikum sich empörte, heute verachtet es. Es stellt Ansprüche und ist der Geschworene des Gerichts. Was würde aus uns, wenn es nicht die Berufungsinstanz des breiten Publikums und das endgültige Urteil des Auslandes gäbe…

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