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Die „richtigen“ und die „falschen“ Deutschen

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Frau P., Mitte Dreißig, jugendlich und gepflegt, läßt sich deswegen nicht unterkriegen. Sie hat etwas Fröhliches, etwas Forsch-Zugrifflges in ihrem Wesen. Sie sagt: „ge- wäsn“, „angenähm“, „äben“; sie sagt vor allem immer wieder: „Ach, iwo!“ Das Sächsische aus hübschem Munde klingt erheiternd. Frau P. mokiert sich über das Regime und seine Auswirkungen; sie sagt nicht „wir sind eingesperrt“, sondern vielmehr: „Wir können ja nicht gestohlen werden.“ Sie lacht dazu, aber wer genau hinhört, dem entgeht der Unterton trauriger Resignation nicht. Dann kommt, natürlich, die Rede auf ihre Verwandten in der Bundesrepublik, auf die Westdeutschen ganz allgemein. Ein heikles Kapitel, ein wunder Punkt. Frau P. sagt:

„Die haben uns ja längst vergessen.“

„Die wollen ja gar keine Wiedervereinigung.“

„Die haben ja alles.“

„Die denken ja doch, wir seien Menschen zweiter Sorte“ (sie sagt: Manschen zweider Sorde).

Inzwischen ist Herr P. heimgekommen, ein ernster, etwas skep-bischer Mann, der nur langsam auftaut. Er arbeitet als Techniker in einem staatlichen Betrieb, gehört nicht der Partei an und hat deswegen, wie er ausdrücklich betont, keinerlei Nachteile. Herr P. („stur“ höchstens insofern, als er den Dingen auf ihren Grund gehen will) ergänzt die Äußerungen seiner Frau; er sagt:

„Es kränkt mich, wenn mein Bruder denkt, sie (in der Bundes-

republik) seien die einzigen, die richtigen Deutschen.“

Oder: „Man möchte doch auch geachtet und anerkannt werden…“

Ein grotesker, lächerlicher, deprimierender Sachverhalt. Herr und Frau P., zum Beispiel, haben ihren Verwandten in Bonn an Wissen, Einsicht und Tiefgang manches voraus; aber sie werden von ihnen njeht für voll genommen, werden im letzten „nicht anerkannt“ — weil sie zufällig auf die „falsche Seite“ geraten sind.

Das Gespräch hat mehr als sechs Stunden gedauert. Ich erwische gerade noch die letzte Straßenbahn, die praktisch leer zum Leipziger Haupt- bahnhof zuckelt. Im Bett dann, trotz bleierner Müdigkeit noch einige Seiten „Lotte in Weimar“: Thomas Manns atemberaubende Kunst der Paradoxien feiert in diesem Goethe-Roman wahre Orgien; das ist genau die richtige Lektüre für einen aufgekratzten Entdeckungsreisenden, der Widersprüche unter einen Hut zu bringen versucht. Wie denn nun? Herrn und Frau P. geht es unzweifelhaft weniger gut als ihren westdeutschen Verwandten, und dennoch machen sie, alles in allem, einen zufriedeneren, ruhigeren Eindruck: Das Fehlen äußerer Anreize und Möglichkeiten hat zu einer Verinnerlichung ihrer Bedürfnisse geführt; sie können nicht an die Riviera fahren, dafür erschließen sich ihnen zum Beispiel die Schönheiten eines Klavierkonzertes … Wie denn nun? Die DDR ist ganz gewiß ein vorwiegend ungemütlicher Staat, dem so etwas wie „Anmut“ fast völlig abgeht. Gleichwohl gewinnt man bisweilen den Eindruck, als ob hier eine Art von altmodischer Behaglichkeit herrsche: Die Leute, scheint es, haben mehr Zeit als wir; die Automobilisten fahren langsamer, vorsichtiger und höflicher als bei uns; und das Fehlen jeglicher Reklame wirkt nach dem ersten Schock beinahe erholsam. Das Leben ist, weiß Gott, weniger attraktiv als im Westen, aber es ist auch weniger hektisch.

Anderseits: Die Kritik an der Bonner Politik und der Ärger an einer bestimmten westdeutschen Geisteshaltung sind weit verbreitet; aber sie schließen natürlich die Sehnsucht nach den goldenen Töpfen nicht aus; und sie schließen ebensowenig aus, daß der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung sich fast jeden Abend das Programm des bundesdeutschen Fernsehens zu Gemüte führt.

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