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NOTIZBUCHER

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Irgendein Notizbuch hat jeder Mensch irgendwann in seinem Leben gefiihrt. Und dies nach den verschiedensten Gesichts- punkten: sachlich, sehr nuchtern, knapp — oder sehr personlich, emotionell, ungemein lebendig. Man sollte Notizbiicher nicht wegwerfen — meist tut man es doch, und dies gewohnlich, wenri ein Jahr zu Ende geht — man sollte sie sammeln, und nach Jahren, in einer stillen Stunde still durchblattern. Eg konnte sich dann begeben, dafi die Vergangenheit jah transparent wird und aus einem einzigen Wort, einem kurzen Satz, einer an den Rand gekritzelten Bemerkung, eine ganz kleine Welt ersteht…

Ich saB uniangst einen langen Abend lang uber alten Notiz- biichern und machte nach eingehendem Studium folgende Ein- tragung in ein funkelnagelneues: Heute in Notizbiichern nach keinerlei Gesichtspunkten und ohne bestimmte Absichten ge- blattert, bei mancher Eintragung geschmunzelt, manchen Satz, manche beilaufig angebrachte Redewendung nicht zu deuten gewufit, manche Telephonnummer, manche Adresse, manchen Hinweis auf dies und das auBerst mysteribs gefunden. Mit Na- men nichts anzufangen gewufit, mit ihnen ein eigenartig Ratsel- spiel getrieben, hinter einer Zahl, einer Ziffer verlorene Zusam- menhange gesucht. Es war, als stiegen in den Raum, in dem ich, ein Punkt darin, saB, aus tausend winzigen Tiiren tausend Erinnerungen herein, tastend, tappend, unsicher. Ich kann nicht sagen, dafi mir aus der Aneinanderreihung vieler Daten ein abgerundetes Bild der Jahre vorher erstand, es war mehr ein Heiaussteigen kleiner, bunter Blasen aus einem stillen, sehr weiten Teich. Manche glitzerten wie Diamantensplitter, manche waren in Grau gehalten, viele schillerten, und einige glanzten, daB sie dem Auge Schmerz verursachten …

Ich sagte, daB mir die eine oder andere Anmerkung ein Schmunzeln abverlangte. Ein Schmunzeln schmerzt nicht, aber es kann den Hauch leiser Ironie tragen. Man ist geneigt, Ver- wehtes gerne mit etwas Ironie zu umkleiden, das, was einmal war und einem damals wichtig schien, nun, im kalten Licht der Gegenwart, der Bedeutung zu entkleiden und damit unbedeutsam zu machen. Was bleibt, ist ein gewisses Lacheln, ein spbttischer Zug um den Mund und dem Satz auf den Lippen: „Mein Gott, was man doch damals alles des Notierens wert fand. Einfach lacherlich, kindisch, unreif … !”

Solcherart gestimmt und seelisch unterkiihlt, war ich nicht geneigt, diesen abgegriffenen Biichern eine weitere Lebensfrist zu geben. Ich war daran, mit einer sehr lassigen Handbewegung die Notizbiicher, nun nichts mehr als geheftete, genormte Papier- blatter, beschrieben mit lappischen Zeichen, iiberspult von den sanften Wogen einer billigen Melancholie, vom Tisch zu fegen: weg damit, reif fur den Weg zum Mullhaufen. Wozu Senti- mentalitaten…

Da fiel mir ein Blatt auf, das aus einem der Notizbiicher etwas herausragte. Es machte sich in nicht aufdringlicher Weise be- merkbar, es war mehr ein stummes Winken, ein Flustern ins Ohr, ein bescheidenes, verschdmtes „Auf-sich-aufmerksam-Machen”. Ich fiihlte zu deutlich, gerade dieses Blatt hatte mir etwas zu sagen, wollte an etwas erinnern, an ein Unwiederbringliches…

Ich konnte jetzt eine sehr romantische, eine sehr spannende oder eine tieftraurige Geschichte ersinnen, die aber vielleicht niemaftd [Senderlich interessieren - *wiirde;yda stes’vdwutlich - sehr personliche Ziige aufweisen diirfte. Ich mochte nur soviel sagen, daB es sich bei der bewuBten Anmbrkung’ duf3 beSagtenr;4th- witzig-vorwitzigen Blatt, an sich um eine Nichtigkeit handelte. Eine Bagatelle, aus der aber, in seltsam verzauberter Manier, eine Fiille von Erinnerungen sprang. Eine Kettenreaktion von ungeahntem AusmaB! Der Raum, von einer Stehlampe mild er- hellt, weitete sich in Unendlichkeiten, die Zeit versank, und was war, strbmte in seiner ganzen Fiille und Vielfalt herein. Ich war nicht mehr allein, Jahre und Monate und Tage, die ich ver- sunken wdhnte im Meer des Vergessens, tauchten auf, Inseln der Freude, der Schbnheit, des Entziickens und auch leisen Schmerzes und herber Wehmut.

Ein Cinemiracle, das mir ein simples, verwelktes, leicht ver- gilbtes Notizbuchblatt gratis und franco ins Haus lieferte. Ich brauchte dazu kein teures Billett und hatte den Vorteil, mich nach der Vorstellung weder in der Garderobe drangen noch auf auf eine StraBenbahn warten zu miissen. Darum: Werfen Sie Ihre alten Notizbucher nicht voreilig weg!

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