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Zwei Welten

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Vielleicht gibt es mehrere, aber im praktischen Leben kommen zumeist nur diese zwei vor.

Die erste Welt betritt man (man muß mit dem rechten Fuß ausschreiten), ohne es zu wissen. Man merkt es erst, weil man so fröhlich und flott vorwärtskommt und einem alles viel schöner erscheint als sonst. Schon die Straße, durch die man geht, ist lieblich und sauber. Seht, da haben sie Blumen im Fenster und dort schwenkt eine fleißige Hausfrau das Staubtuch wie eine Fahne. Guten Morgen, Fräulein, wie geht's, schöner Tag heute! Aha, der Herr Briefträger, haben Sie was für mich? Auch gut, dann eben ein andermal. Heute strahlt wieder einmal die Sonne, Herr Nachbar, nicht wahr? Aufgepaßt, Kleiner, mit dem Roller, sonst fährst du mich noch um, du Knirps! Sie alter Herr, Sie kenne ich auch schon vom Sehen. Da kommt ein Kinderwagen, dem muß ich ausweichen; wie das drin schläft mit geballten Fäustchen und rosigen Bäckchen! Dort drüben, die junge Frau, ein hübsches Ding, wie stolz sie ihre Einkaufstasche trägt. Da kommt ja schon meine Straßenbahn. Nur zu, Herr Schaffner, aber hübsch laut und munter, es geht ja an die Arbeit! Da sitzen: ein alter Handwerker, eine sympathische alte Frau und dort das Mädchen, wie eine Knospe so frisch und zart, aber sie würdigt mich keines Blickes, nun ja, sie denkt gewiß an ihren Liebsten. Der Wagen ist aber heute wieder bumsvoll! Tut nichts, Herr Nachbar, daß Sie mich gestoßen haben, wenn wir ein wenig zusammenrücken, ist Platz genug, mit etwas gutem Willen geht alles. Da sind wir ja schon: wie die Fahrt heute .wieder vergangen ist!

Das nächste Mal betritt man eine ganz andere Welt, weiß der Kuckuck, wie da? kommt. Wie häßlich diese Straße ist, so elende Gehsteige gibt es wohl nirgends, und der

Schmutz überall, schauderhaft! Natürlich, die Schlampe dort muß das Staubtuch ausgerechnet zum Fenster hinausbeuteln, dann soll es keine Bazillen geben, das müßte man verbieten! Aha, dort kommt der Briefträger, haben Sie was für mich? Nichts als Mahnungen und Rechnungen! Paß auf, du Lausbub, mit deinem Roller, oder ich hau dir eine herunter; das sollte man nicht dulden! Der Kerl dort hat anscheinend auch nichts anderes zu tun, als herumzulungern, unsympathisches Subjekt! Da kommt ja wieder der Zittergreis angewackelt. Das Befahren der Gehsteige mit Kinderwagen müßte man strengstens untersagen, wer kann denn immerzu ausweichen, die gehören auf die Fahrbahn; die Leute schaffen sich Kinder an, als ob's nicht ohnehin schon genug Menschen auf der Welt gäbe, wohin das noch führen soll! Was schleppt denn die alte Schachtel dort in ihrer Einkaufstasche, natürlich, die denkt nur ans Fressen. Diese Straßenbahn, jetzt warte ich schon eine halbe Stunde, überall nur Unfähigkeit und Schlamperei, das sind Verhältnissei Na endlichl%iatürlich wieder überfüllt, ist ja gar nicht anders möglich, wenn sie so unregelmäßig fährt, Herr, stoßen Sie mich nicht! Das Fräulein dort muß sich ausgerechnet die Nase pudern, dumme Gans, die kommt sich auch noch schön vor! Und der Gestank überall, pfui! Wie der Wagen heute wieder schleicht, und das Geratter — zum Verrücktwerden!

Und so weiter. Diese zweite Welt unterscheidet sich in allem von der ersten. Sie ist bedrückend, vulgär, wirr und gereizt; auf Schritt und Tritt erfüllt sie einen mit Wut. Man möchte am liebsten jedem etwas Gemeines ins Gesicht brüllen; jeder steht einem im Weg, jeder tut etwas in übler Absicht und benimmt sich feindselig. Es gibt nichts, was einen aufheitern und mit Vertrauen erfüllen könnte, nichts Gutes, das man vollbringen könnte, nichts, was einen nicht gegen die Welt und die Menschen aufbrächte.

Ist es nicht sonderbar, daß Politik zumeist nur in dieser zweiten Welt betrieben wird? Ins Deutsche übersetzt von Julius Mader

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