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Vor 120 Jahren

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Am Karfreitag des Jahres 1729, der wie heuer auf den 15. April fiel — nach neuerer Forschung erst 1731 —, wurde in der Thomaskirche zu Leipzig unter Bachs Leitung die Passionsmusik nach dem Evangeli1 sten Matthäus uraufgeführt. Ein verhältnismäßig großer Apparat war aüfgeboten: zwei Chöre, zwei Orchester, zwei Orgeln und zahlreiche Solisten. Die beiden ausgedehnten Teile umrahmten die Predigt, wodurch der gottesdienstliche Charakter des Werkes besonders zum Ausdruck kam. Man vermutet, daß Bach die beiden Klangkörper getrennt — auf dem Orgelchor (und der gegenüberliegenden kleinen Empore — aufgestellt hatte, und der Eindruck muß überwältigend gewesen sein, wenn der Stimme Christi, vom leisen Spiel eines Regals begleitet, die erregten Rufe des großen Chores und des Orchesters antworteten. Doch vermerkte ein Zeitgenosse Bachs, daß die Musik „wegen der allzu heftigen in ihr ausgedrückten Affekte in der Kammer einen guten, in der Kirche aber einen widrigen Eindruck gehabt“.

Längst haben wir uns an beide Formen der Aufführung gewöhnt und ihre verschiedenen Vorteile schätzen gelernt. Def höheren Weihe der Darbietung im kirchlichen Rahmen stehen die rein musikalischen, vor allem akustischen Vorzüge der konzertanten Aufführung gegenüber. Auch der Stil der Darbietung, der noch vor etwa zwanzig Jahren zwischen den Extremen dramatischromantisch und Sachlich-barock schwankte,

1st heute kein Problem mehr. Längst hat man eine mittlere Linie gefunden, die von falschem Pathos und klassizistischer Glätte gleichweit entfernt ist. Dieser zeitlos gültige Stil bestimmte auch die Aufführung durch den Madrigalchor der Bach-Gemeinde und das Kammerordiester der Konzerthausgesellschaft unter Julius Peter, mit den Solisten Erich Majkut, Hans Braun, Hilde

Zadek, Dagmar Hermann und Otto Edelmann. Trotz anerkennenswerter Leistungen des Liebhaberchors und der Solisten, war der Gesamteindruck nicht ganz befriedigend. Das lag vor allem an einer Reihe unglücklicher, meist zu rascher Tempi und rhythmischer Ungenauigkeiten, welche gerade die Musik Bachs absolut nicht verträgt. Auch die Einschnitte am Ende der Vers- zeilen bei den Chorälen müssen stärker markiert werden. Doch bleibt es das Verdienst der Bach-Gemeinde, einem breiten Kreis, auch Minderbemittelter, das große Werk zugänglich gemadit zu haben.

Am Gründonnerstag und Karfreitag erklang die „Passionsmusik nach dem Evangelisten Matthäus“ im Großen Musikvereinssaal unter Hans Knappertsbusch.

Der große Chor des Singvereins, die Wiener Sängerknaben und die Symphoniker waren die Ausführenden. Die Qualitäten und Mängel der älteren Solisten (Julius Patzak und Rosette Anday) sind bekannt; daher seien die Leistungen der jüngeren. Sänger besonders hervorgehoben: die von Elisabeth Schwarzkopf, Otto Edelmann und Hans Braun, welche die Voraussetzungen besitzen,

gute Oratoriensänger zu werden. — Trotzdem die Aufführung ungenügend vorbereitet wiar, wirkte sie durch den ruhigen, breiten Fluß und die Klanggewalt des großen Ensembles. Der Dirigent hat ein gutes Gefühl für die dramatischen Höhepunkte und die nicht minder wichtigen ausdrucksvollen Pausen und Zäsuren. Mit besonderer Aufmerksamkeit gestaltete er die Choräle. Die einzelnen Nummern waren nicht genügend abgeschliffen und fügten sich daher auch nicht entsprechend zum Ganzen. Bach verlangt größte Präzision im Rhythmischen. Und möge man bei einer künftigen Darbietung bedenken, daß Deutlichkeit und Klarheit des Detail die wichtigsten Voraussetzungen für die Vollkommenheit einer Aufführung sind.

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