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Zweimal Matthaus-Passion

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Der Versuch, gegen die Tradition eine Tradition zu schaffen, scheint sich in der Wiedergabe der „M a t-thäus-Passion“ von J. S. B a c h unter Hans Gillesberger durchzusetzen. Was im Vorjahr neu und nicht ganz unanfechtbar schien, hat diesmal, in noch betonterer und strafferer Durchführung, allgemeine Gültigkeit bewiesen: möglichste Heranziehung des liturgischen Elements und der singenden Gemeinde, vom großen Chor der Singakademie symbolisiert, während die eigentlichen Chöre dem Kammerchor anvertraut waren. Von hier bis zur tatsächlich mitsingenden „Gemeinde“ dürfte nur noch ein — wenn auch langer — Schritt sein. Deshalb stehen die Choräle, einst dynamische Bravourstücke des A-capella-Chores, nun unter voller Begleitung von Orgel und Orchester nach Art der Volksgesänge. Es ist nicht zu leugnen, daß durch diese Art bei weiterer Steigerung die Verlebendigung des großen Werkes im geistlich-liturgischen Sinne, soweit dies im Konzertsaal möglich ist, erreicht werden kanri; die Frage ist nur, wie weit (und wohin) dieser Weg führt, da Liturgie und Konzert nun einmal Gegensätze sind und bleiben. Gegenwärtig hält dieser Stil eine Mitte von formaler Bewältigung und ausdrucksmäßiger Er-fijlltheit, eine Mitte, die da und dort zugunsten der einen oder anderen Komponente verschoben wird. Führer des Solistenensembles und unnachahmlich bleibt Julius Patzak als Evangelist. Mimi Coertse,

Hilde Rössel-Majdan, Fritz Wunderlich, Frederick Guthrie, Walter Berry, Harald Buchsbaum sowie die anderen Gesangs- und Instrumentalsolisten, der Wiener Kammerchor, die Singakademie, die Wiener Sängerknaben und das Orchester der Wiener Symphoniker teilten sich in die in ihrer Art einmalige Leistung. Prof. Josef Mertin schrieb eine gescheite Begründung und Einführung in den neuen Stil der Wiedergabe.

Die Aufführung der „Matthäuspassion“ von Bach durch die Wiener Sängerknaben, zahlreiche „kleine“ und „große“ Solisten (von diesen verdienten jedenfalls Kurt Equiluz, Harald Buchs-baum und Hans Breitschopf genannt zu werden), hatte in der Art der Wiedergabe vieles für sich, manches aber auch gegen sich. Da man für die Gesangsoli ebenfalls Sängerknaben beziehungsweise ehemalige Mitglieder dieser Vereinigung herangezogen hatte, war eine Homogenität des Vokalkörpers gesichert, die gewiß, wie es in der Ankündigung der Passion hieß, „im Sinne Bachs“ lag. Anderseits kamen die Farben auf der Klangpalette zu wenig differenziert heraus. Der Herrenchor wirkte durch seine stilistische Durchbildung und die zurückhaltende Akzentuierung am besten. Bei den Sängerknaben, die sich, wie wir gelegentlich ihres letzten Konzerts bemerkten, nun nach einem Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt erfreulicherweise mit dem ihnen einstens ganz eigenen Verständnis für geistliche Gesänge auf guten Wegen befinden, machte es sich eben noch immer geltend, daß die chorische Arbeit auf das weltliche Gebiet und jenes der konzertanten Oper übergegriffen hatte. Hier liegt ein Problem, das seiner völligen Lösung noch harrt. Gerade in dem stimmungsvollen Räume der Hofburgkapelle wurde dies deutlich. Wenn man „im Sinne Bachs“ und etwa der Thomaner arbeiten will — und dies Vorhaben verdient alle Förderung und Anerkennung —, muß eine stärkere Konzentration auf die sakrale Musik und eine intensive Schulung in dieser Richtung Platz greifen. (Gesamtleitung: Ferdinand Großmann; Leitung der Choräle: Xaver Meyer; an der Orgel: Josef Böhm und Alois Forer; mitwirkend: Chorus Viennensis und Akademischer Orchesterverein.)

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