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Zwei Passionen
Die Aufführung der „Matthäuspassion“ im Musikvereinssaal unter Karl Richter wurde zum österlichen Ereignis des Wiener Konzertlebens. Trotz vierstündiger Dauer der (ungekürzten) Partitur ließ die künstlerische und geistige Spannung bei Ausführenden und Zuhörern keinen Augenblick nach. Die Intensität des seelischen Mitlebens verbot jede Beifallsbezeigung. Bewegt verließ man den Saal, schweigend und in sich gekehrt, was bekanntlich der stärkste Grad des Beifalls ist. Richter hat das Riesenwerk in ungeheuren Bögen ausgespannt, ohne
— obgleich er auswendig dirigierte und selbst das Cembalo bediente — Details zu überspielen. Von den Solisten verdient Fritz Wunderlich an erster Stelle genannt zu werden; er dürfte als Evangelist heute kaum seinesgleichen haben. Mit ihm und Hermann Prey (Christus), Theresa Stich-Randall, Christa Ludwig und Otto Wiener war allerdings ein Solistenteam am Werk, das sich wie selten eines zur Bachschen Einheit gestalten konnte und dem sich in kleinen Partien fflsiehrfstftn, Walter Poduschka, Wolfgang Schellenberg und Astrid Hellesnes günstig einfügten. Von ebensolcher Einheitlichkeit war das Spiel der zehn Instrumentalsolisten. Die ungeheure Aufgabe des Chores wurde vom Singverein (mit den Wiener Sängerknaben) in Schönheit und großer Ausdrucksvielfalt
— in die auch die Choräle einbezogen waren — gelöst und vom Orchester stilsicher unterstützt. Die metaphysische Wirkung war so stark, daß kleine technische Unebenheiten einfach überhört wurden. Karl Richter hat, was ihm hoch anzurechnen ist, über allen Histcrizismus hinaus dieses seinem ursprünglichen kirchlichen Gebrauch längst entwachsene und zum Menschheitsbesitz gewordene Werk in einer Weise musiziert, die uns heute am stärksten beeindruckt.
Im Konzerthaus hörten wir die „Johannespassion“ unter Gillesber ger. Dieses frühere Passionswerk J. S. Bachs war hier auf schlichte, gleichsam kirchenmäßige Aufführungsverhältnisse gestellt. Von den Solisten boten Kurt Equiluz als Evangelist und Hilde Gilden (Sopranarien) die beste Leistung, während Claudia Hellmann (Alt) von ihren beiden Arien nur die letztere sehr schön sang. Hans Otto Klooses Stimme fehlte die Milde für die Worte Christi, und William Pearson (Baß) vermochte sich vor allem sprachlich nicht überzeugend durchzusetzen. Der Wiener Kammerchor war hervorragend studiert und äußerst wendig, das Wiener Kammerorchester häufig zu laut, wie auch — leider — die Choräle größtenteils in gleichmäßigem Forte gesungen wurden, was zweifellos eine problematische Symbolisierung des Volksgesanges darstellt. Den Instrumentalsolisten gesellten sich Anton Heiller (Cembalo) und Franz Falter (Orgelpositiv) zu.
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