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Ich bitte meine Kollegen in der FURCHE, ausnahmsweise ausführlicher sein zu dürfen als sonst. Mir ist allerlei zu dem Roman „Albino" von György Sebestyen eingefallen.

Das eine: In jeder Redaktion ergibt sich immer wieder das Problem, wie man die Arbeit eines Mitarbeiters rezensieren soll. Am besten ist eine Selbstanzeige, empfehlenswert ist auch ein Abdruck ohne kritische Würdigung. Denkbar ist's auch, daß man sich einen Rezensenten aussucht, dem das betreffende Werk ehrlich gefällt. (Aber das glauben einem ja die Leser nicht!)

Ich mußte einmal ablehnen, in einer Zeitung über ein Buch von einem Redakteur dieser Zeitung, den ich aufrichtig schätze, eine Kritik zu schreiben, weil mir das Buch nicht gefiel und ich weder das noch ein vorgetäuschtes Lob schreiben wollte.

Und so schreibe ich angesichts des Romans „Albino" keine Kritik — schon darum, weil ich seit langer Zeit keine Kritiken mehr schreibe.

Meine Augen — man entschuldige, bitte, die private Enthüllung — sind zweitens seit langer Zeit so mangelhaft, daß ich nur mit großer Mühe lesen kann und nur lese, was unbedingt gelesen sein muß, und dies mit Hilfe von Vergrößerungsapparaten. Ich bin sehbehindert, also geht's bei mir noch am ehesten mit lyrischen Texten, die man sowieso Wort für Wort konsumiert. Bei der Prosa behelfe ich mir damit, daß ich von einer Publikation, die mich interessiert, die ersten etwa zwanzig Seiten lese, um einen oberflächlichen Eindruck zu bekommen, um nicht ganz zum Außenstehenden zu werden.

So habe ich auch „Albino" zu lesen angefangen. Das Buch hat mich fasziniert, wegen seiner distanzierten, unkonventionellen und doch nicht gesuchten Erzählweise.

Mir ist beim Lesen ein Ausspruch aus einer musikhistorischen Vorlesung eingefallen: Reger ist der erste Komponist, bei dem man von Takt zu Takt nicht voraussehen kann, wie der nächste Takt sein wird. Sebestyen ist gewiß nicht mit Reger zu vergleichen; aber die Prosa seines Romans ist ähnlich.

Ich kann ja nicht mehr summarisch lesen, ich muß Wort für Wort „erlesen". Bei der konventionellen Prosa weiß man, wie's weitergeht, man ergänzt vor dem Umblättern das Ende des Satzes. Dies geht bei dieser Prosa nicht, und das spricht für sie.

Ich bin in den Roman „Albino" weiter vorgedrungen als in die meisten der in letzter Zeit zu mir gekommenen Bücher. (Ganz gelesen habe ich nur das grandiose Stück „Achterloh" von Dürrenmatt.)

Und jetzt kommt das, was mir apropos Sebestyen eingefallen ist: das Phänomen der Zweitsprache. Daß er die deutsche Sprache perfekt beherrscht, ist eine bewundernswerte Leistung. Es gibt Analogien: Milo Dor, Vintila Ivanceanu, Janko Ferk. György Sebestyen war schon ein professionell Schreibender, als er mit sechsundzwanzig Jahren nach Österreich kam. Aber ich glaube,darß seine ganz spezielle Sprache, weil er sie sich als Zweitsprache angeeignet hat, eine besondere, persönliche, einzigartige ist.

Alles stimmt bei ihm, natürlich. Es gibt keine Magyarismen, seine Prosa ist frei von Schlacken. Alles, was er schreibt, kann man so schreiben, wie er es schreibt. Vermutlich aber würde kein anderer dies oder jenes so schreiben, wie er's schreibt. Und diese Erkenntnis ist mir wichtiger als eine Buchkritik über „Albino".

Und jetzt werde ich zitieren, damit man weiß, was ich meine. Keiner der folgenden Sätze ist gesucht, bewußt originell, jeder stimmt, aber jeder ist doch ein wenig anders.

In Ungarn sind Ehepaare per „Sie". Sebestyen ist mit der deutschen Sprache verheiratet; aber er ist mit ihr per „Sie".

„... meine Mutter war wie aus Glas, von ihrem blondweißen Haar wie von einem Heiligenschein beleuchtet."

„Ich wußte bereits, daß die Karosserie eines Autos nichts anderes war als ein Riesenrock, der einen verborgenen Mechanismus verdeckte..."

„Zerfetztes Zeitungspapier lag im spärlich sprießenden Gras, und unter dem Holunderstrauch ... leuchtete ein weicher, heller Fleck..."

„Er hüpfte genüßlich unter dem Wasserstrahl der Brause und die dunkle krause Behaarung seines muskulösen Körpers ordnete sich strahlenförmig in einer Wolke von Dampf."

Wie kreuzte im Wohlbefinden, das sich einstellte nach dem Einatmen solcher Düfte, die Erinnerung an einen, immer nur sehnsüchtig durch die Gitterstäbe beobachteten Garten sich mit der Hoffnung auf ein Abenteuer des Geliebtwerdens?"

„Es war wie beim Schwimmen, mein Körper hatte kein Gewicht, und ich schlief ein, aber der Schlaf wuchs in mir so langsam, daß ich fühlen konnte, wie in der Herzgegend der Druck schwächer wurde und wie die Schatten, die, von der gleichen Strömung erfaßt, mit mir gemeinsam den Garten verließen, allmählich verblaßten."

Ich werde versuchen, mit meinen Behelfen „Albino" weiterzu-lesen.

ALBINO. Von György Sebestyen. Verlag Styria, Graz 1983. 159 Seiten, geb., öS 198,-.

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