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Die Parabel vom Seiltänzer

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Er war ein alter Seiltänzer, der diesen Namen zu Recht verdiente, denn während die meisten, die sich so nannten, einfach balancierend über das von Haus zu Haus gespannte Seil gingen, tanzte er wirklich hoch über den Köpfen seiner Zuschauer. Er schritt dabei vor und zurück, tanzte Slowfox und Walzer, und später Boogie und Jitterbug, je nachdem, was eben modern war. Natürlich fand er dazu keinen Partner, wer hätte es gewagt, auf dem hohen Seil solche Figuren zu machen? Darum blieb er sein ganzes Leben allein. Auch dann, wenn ihn die Menschen, Neugierige, die sich immer und überall fanden und ihm reichlich Beifall zollten, nach getaner Arbeit umdrängten.

Viele Jahre übte er schon diesen gefahrvollen Beruf aus und hatte dabei nicht einmal eine besonders gute Gage, wie etwa manch anderer Zirkus- oder Varietestar. Er konnte gerade davon leben. Er stellte aber auch keine großen Ansprüche. Er war glücklich, wenn er auf seinem Seil stand und wenn ihm die Menge zujubelte. Meist hatte er es so angeordnet, daß er über einer Straße'oder einem Platz seine Künste zeigen konnte, so daß die Menschen ihre Hälse nach ihm verdrehen mußten. Schon das Hochsteigen über die Stiegen des Hauses, von dessen Dach das Seil gespannt war, beglückte ihn. Mit jeder Stufe ließ er einen anderen der Truppe zurück, zuerst den Tierbändiger, dann den Jongleur, der sechs oder acht verschiedene Gegenstände durcheinanderzuwirbeln und doch wieder alle im richtigen Moment aufzufangen verstand, und zuletzt den Clown, der ihn immer bis zum Fenster geleitete, wo er dann endlich, allein, hinausstieg.

Tief unter ihrm waren dann alle diese an der Erde festgebundenen Wesen, und er, er ging auf einem schmalen Weg in den Himmel hinein. Frei und allein, auf seinem Weg. Im Laufe der Jahre glaubte er die Zuschauer immer tiefer und tiefer unter sich zu sehen, und ihre Stimmen schienen ihm immer schwächer. So kam es, daß ihm seine Ohren nicht mehr den Beifall der Menschen zutrugen und seine Augen ihm nicht mehr die gaffende Menge zeigten. Doch in seinem Inneren vernahm er, wie sein ganzes Leben lang, das Klatschen und Bravorufen, wenn er sich am Ende seines Programms noch einmal zurück- und nun, das erste und einzige Mal lächelnd, den dunklen, kleinen Personen in der Tiefe zuwandte. Er sah das glänzende Seil, wie er es sein ganzes Leben gesehen hatte, den Weg in den reinen, blauen Himmel, auf dem er immer sicher dahinschritt. Nur der Clown mußte ihm nun immer den Fuß aufsetzen, dann schwang er sich aber frei hinaus und war sicher und glücklich über alle Menschen.

Im Laufe seines Lebens hatte er eine Anzahl Freunde erworben, die, nun besorgt um ihn, das Seil nicht mehr von Haus zu Haus, sondern auf dem flachen Dach eines Bauwerkes, nur etliche Zentimeter über den Boden spannten. Man führte ihn die Stufen hoch und ließ ihn dann von einem Ende zum anderen tanzen. Dort stand dann wieder der Clown, um ihn die Stufen hinunterzuführen. Während der Seiltänzer hoch über alle anderen Nummern und den vielen runden Gesichter, die wie eine Herde von Nullen zu ihm starrten, zu 5ehen vermeinte, standen alle, der ’ierbändiger, der Jongleur und selbst die Hilfsarbeiter, die die Ställe auszumisten hatten, und auch viele verständnislos zusehende Fremde an seiner Seite und lachten und weinten.

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