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Milo Dor: Das Experiment

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Eine Legende über die Unzufriedenheit der Menschen.

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Eine Legende über die Unzufriedenheit der Menschen.

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Ein großer Zauberer erfand eines Nachts nach jahrelangen Versuchen ein Elixier, mit dem er allerlei Verwandlungen durchführen konnte. Nachdem er seine Erfindung an Tieren erprobt und unzählige Male eine Küchenmaus in einen Tiger, den Tiger in einen Kanarienvogel, den Kanarienvogel in einen Elefanten den Elefanten in eine Fliege, die Fliege in einen Ochsen verwandelt hatte, beschloß er, ein Experiment mit den Menschen au wagen. Da er ein moderner Zauberer war, ging er nach streng wissenschaftlichen Methoden ans Werk und beauftragte ein Institut für Meinungsforschung, ihm drei Männer ausfindig zu machen, deren Durchschnitt für ihre Epoche typisch war.

Diese drei Männer, die ihm nach vielen mathematischen Berechnungen und soziologischen sowie psychologischen Untersuchungen genannt wurden, fragte er nun, in was sie gerne verwandelt werden wollten.

Der erste der drei Männer wünschte, ein Millionär zu werden. Angesichts der Kürze des menschlichen Daseins, erklärte er, das zudem ständig von einer gewaltigen, alles Leben vernichtenden Waffe bedroht sei, wolle er den Rest seiner Tage in sorglosem Wohlstand verbringen. Kaum hatte er seinen Wunsch ausgesprochen und einige Tropfen des wunderlichen Elixiers ausgetrunken, als er sich schon in einem schönen Garten, vor einer prunkvollen, weißen Villa, am Ufer eines warmen Meeres fand. Im Garten tummelte sich eine ausgelassene Gesellschaft, die ihn sogleich in ihre lärmenden Spiele einweihte, so daß er alles andere vergaß. Er aß auserlesene Speisen, trank teure Getränke und vergnügte sich mit einigen schönen Mädchen, die seinem Reichtum willig waren. Er amüsierte sich solange, bis er vor Müdigkeit einschlief. Am nächsten Tag fing er alles von vorne an.

Der zweite Mann wünschte sich ein bescheidenes Leben, das er in weiser Heiterkeit beenden wollte. Auch sein Wunsch wurde erfüllt. Er fand sich allein in einem kleinen Haus auf dem Berg, von dem aus er auf das Treiben der Menschen im Tal hinuntersah. Im Haus gab es eine große Bibliothek, in der er sich von der Welt abschließen konnte, um über sie nachzudenken, was er auch tat.

Der dritte Mann wünschte, in einen Mehlwurm verwandelt zu werden. Er hatte in der Zeitung gelesen, daß Mehlwürmer die einzigen Lebewesen seien, denen die tödlichen Strahlen jener furchtbaren Waffe nichts anhaben könnten. Er wollte den Tod der ganzen Menschheit überleben. Und er überlebte ihn tatsächlich.

Als der erste Mann starb, bedauerte er, sein Leben mit billigem Vergnügen vertan, ohne den Sinn seines Daseins ergründet zu haben; er beneidete zutiefst den Mann auf dem Berg. Der Mann auf dem Berg wieder beneidete in der Stunde seines Todes den Mann vom Meeresstrand, der in vollen Zügen gelebt hatte, während er selbst sich in vollkommener Abgeschiedenheit mit nutzlosen Gedanken herumgeschlagen und dabei Erkenntnisse gewonnen hatte, die er niemandem mehr überliefern konnte.

Auch der dritte Mann war nicht glücklich. Er hatte nichts davon, daß er alle anderen Menschen überlebt hatte. Er war nur ein Mehlwurm, der nichts anderes tun konnte als sich durch einen riesigen Haufen Mehl hindurchzufressen. Er bedauerte aus tiefstem Herzien, nicht als Mensch gestorben zu seim. Moral: Wie man sich auch bettet, man schläft schlecht.

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