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Annerose möchte etwas erleben

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Andrea Wolfmayr, Steire-rin, FURCHE-Preisträgerin 1984, schrieb ihren zweiten Roman: „Die Farben der Jahreszeiten“ (Verlag Styria). Wir bringen eine Leseprobe daraus.

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Andrea Wolfmayr, Steire-rin, FURCHE-Preisträgerin 1984, schrieb ihren zweiten Roman: „Die Farben der Jahreszeiten“ (Verlag Styria). Wir bringen eine Leseprobe daraus.

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Judith hat fertig gefrühstückt, wird ins Badezimmer getragen und umgezogen, Wickeln mag sie gar nicht leiden!

GRAZER KAUFMANNSFAMILIEN: Die Firma Anton Pichler, sechs Generationen alt, „behütete“ auch Monarchen

Annerose gibt Waschpulver in die Maschine, schaltet ein, putzt Waschbecken und Badewanne, wirft gebrauchte Handtücher zur Schmutzwäsche, hängt neue auf. Sie öffnet die Fenster, trägt die Mistkübel runter, nimmt die Post

aus dem Postkasten und legt sie auf Helfrieds Platz am Eßtisch. Dann räumt sie den Frühstückstisch ab und beginnt den Geschirrspüler einzuräumen, aber Judith will endlich spielen.

Annerose setzt sich zu Judith auf den Fußboden und schaut mit ihr ein Bilderbuch an. „Was ist denn das, Judith?... Das ist ein Schwein! — Und wie macht das Schwein, Judith?“ Judith grunzt. „Ja!! Und wie macht die Katze? ... Wie macht der Hund?... die Kuh?...“

Dann bauen sie aus Bausteinen einen Turm, Judith wirft den Turm um, kreischt vor Begeisterung, man sieht ihre zwei unteren Schneidezähne blitzen.

„Wo ist der Ball, Judith?“ Judith sieht sich suchend um, wendet sich dem Zeigefinger nach. „Ja! Da ist der Bau! Holden-BaiH*?-Judith krabbelt geschäftig dem Ball nach, bringt ihn. „Danke, Judith. Da, wirf du ihn jetzt weg. Wirf! Weit weg werfen!“ Der Ball kollert, rollt weg, verschwindet unter dem Kasten. Judith sieht abwechselnd die Stelle, an der der Ball verschwunden ist, abwechselnd Annerose an. „Sollen wir den Ball suchen?“ Judith nickt. Annerose geht in die Küche, bringt den Besen, fährt unter den Kasten, gibt dem Ball einen Stoß. Er kommt zum Vorschein, über und über staubig, und mit ihm ein paar Brotrinden, eine kleine Puppe, eine Haarspange und ein Tischtennisball. Annerose holt den Staubsauger. Judith mag den Staubsauger nicht, schaut argwöhnisch, dann ängstlich, kriecht zur Tür, jammert. „Nur kurz, Judith! Mama muß saubermachen!“

Annerose saugt eilig, während Judith wimmert und schließlich lauthals brüllt, räumt den Staubsauger dann weg und setzt sich wieder zu Judith. „Schau, Judith, da ist das kleine Schaf. Ist das nicht lieb?!...“

Annerose wünscht sich seit neuestem aufs Land, weg von der Stadt. Sie wünscht sich ein ebenerdiges- Bauernhaus mit Fenstern nach allen Seiten, durch alle Fenster nur Wiesen und Felder und Wälder und Himmel sichtbar, ein Haus, wie ihre Schwester es hat. Und nicht diese Aussicht von hoch oben auf eine stark befahrene Straße, dem Nachbarn gegenüber ins Schlafzimmer, auf eine kahle Feuermauer und ein verlassenes Grundstück voll von dürrem Gras hinter hohen Plakatwänden. Annerose lebt nicht mehr gern in der Stadt, seit Judith auf der Welt ist. Früher hatte sie für die Stadt geschwärmt, die Stadt bietet alle Möglichkeiten, kulturell, für die Freizeit, die Arbeit — jetzt aber muß sie Judiths wegen zu Hause bleiben. Das macht ihr nichts aus, sie würde auch gar nicht abends weggehen, sie mag Judith nicht allein lassen, ganz abgesehen davon, daß sie auch viel zu müde ist nach diesen langen Tagen mit dem ausschließlich auf Judith ausgerichteten Zeitplan, durch den viel zu selten ungestörten Schlaf dieser Nächte. Aber etwas fehlt.

Ein Haus mit in Weiß. Rosa oder

Gelb übertünchten Mauern, einer Weinlaube dahinter und einer grünen Holztür mit ein oder zwei Steinstufen und einer schmalen Bank davor, um den Sonnenuntergang beobachten zu können, mit Fenstern, vor deren weiß lak-kierten Gitterstäben Töpfe mit Pelargonien oder Begonien stünden, aus der Küche das Geräusch von scheppernden Tellern und Topfdeckeln, rundum das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen, von so etwas träumt sie.

Allerdings gibt es nur noch wenige solcher Häuser, und sie befürchtet zu Recht, daß die lufthungrigen Städter in ein paar Jahren auch noch das restliche verfügbare Land aufgekauft haben werden, um es an den Wochenenden zu besetzen samt ihrem Troß von Kindern und Hunden und Freunden und Grillapparaten.

Annerose möchte so schnell wie möglich ein Haus, schnell, bevor es zu spät ist. Es braucht ja kein großes Haus zu sein, bloß Küche, Stube und Kammer. Den Dachboden könnte man später ausbauen,

ebenso die Ställe. Die Scheune eignet sich zum Basteln, Töpfern oder Weben, hier könnte man auch alles abstellen, jdie RodeL und Schier und Rollschuhe und Fahrräder, das Sandspielzeug, den Kinderwagen und das Tretauto ... so viele Dinge, denkt Annerose. Was sich nicht alles ansammelt in ein paar Jahren. Auf dem Land würde man bescheidener werden, vielleicht.

Aber sie hört Helf ried schon sagen: „Bist du verrückt?! Ein Haus auf dem Land! Was glaubst du, was das kostet! Bad installieren und Klo, Telefon, Stromleitungen verstärken, Heizung einbauen, wahrscheinlich sind die Böden morsch, die Wände feucht, so gut wie alles gehört saniert! Du brauchst doch schließlich deinen Komfort, du willst doch nicht jeden Tag Holz und Kohlen und Wasser schleppen, das ist doch absurd!“

Aber ganz heimlich, zuinnerst, denkt Annerose, daß sie das, ausgerechnet das wollte. Denn lieber trüge sie Wasser und wärmte es in einem Kessel auf dem Herd, den sie erst einheizen müßte, lieber hängte sie mit klammen Fingern die Wäsche ins Freie oder auf den

zugigen Dachboden, als in der Stadtwohnung mit ihren ewig gleichmäßig temperierten, warmen und bequemen, aber einsamen und begrenzten Räumen zu ersticken. Diese vorgewärmte Luft, die der Haut und den Pflanzen alle Feuchtigkeit entzieht, sie staubtrocken und schuppig macht! Jeden Winter dieses Kratzen im Hals, das andauernde Hüsteln, Judith ununterbrochen krank. Und wenn man Zentralheizung hat, braucht man natürlich einen Luftbefeuchter, ein Gerät zieht das andere nach sich. Wie viele Steckdosen sind in der Wohnung, wie viele Stromverteiler! Doch Helf ried, das weiß Annerose nur allzugut, Helfried will auf keinen Fall aufs Land. Am Wochenende ja, zugestanden, aber unter der Woche braucht er seine Bequemlichkeit, seine warme Wohnung, sein Kotelett am Abend, seine Zeitungen morgens, den Zigarettenautomaten um die Ecke, das desinfizierte Klo und das, geheizte Bad, Helfried will auf nichts verzichten müssen.

Nur ist Helfried eigentlich den ganzen Tag nicht da, benutzt Helfried die Wohnung ausschließlich an den Abenden und Wochenenden. Wer in der Wohnung lebt, sie bewohnt, das sind Anneröse und Judith.

Und Annerose kommt es vor, als vertrockneten sie beide allmählich, als liefen ihre Spiele im Kreis und blieben immer dieselben, als lebten sie gar nicht mehr wirklich. Und manchmal fühlt sie sich, als müßte sie die Wände hoch oder zum Fenster hinaus, weil alles rundum so unerträglich häßlich, so widerwärtig gleichgültig, so entsetzlich langweilig wäre...

Helfried. * Meist trägt er dunkelbraune Cord- oder helle Leinenanzüge, dezent gestreifte oder karierte Hemden in Beige- oder Biautäwen, dazu Strick- oder Le- derkrawatten. Er will leger, aber nicht nachlässig wirken ...

Beim Autofahren flucht er manchmal; daß das notwendig ist, kann er begründen, er hat Psychologie studiert. Er fährt beherrscht, aber schnell. Er hält sich für einen exzellenten Autofahrer und reagiert rasch. Eine der ihm angenehmsten Empfindungen ist das ruhige Verweilen seiner Hand auf dem Steuerknüppel...

Seine Beziehung zu Judith ist innig, leider hat er zu wenig Zeit für sie. Er hätte nichts einzuwenden gegen ein zweites, eventuell sogar ein drittes Kind.

Die Wochenenden gehören ausschließlich der Familie, das ist ein Punkt der unverbrüchlichen Abmachung zwischen Helfried und Annerose. Die Wochenenden sind leider nicht immer so erquicklich, wie sie sich das wünschten, wahrscheinlich ist die Erwartungshaltung zu verschieden, meint Helfried. Er brauchte Ruhe nach einer anstrengenden und turbulenten Arbeitswoche, Annerose möchte etwas erleben.

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