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Auch das war Wien

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Torberg wäre am 16. September 75 geworden. In seinem Nachlaß fand sich ein unveröffentlichter Roman: „Auch das war Wien“, geschrieben zwischen Mai 1938 und Juni 1939 in Prag, Zürich und Paris. Die FURCHE bringt das Kapitel über den Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich 1938.

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Torberg wäre am 16. September 75 geworden. In seinem Nachlaß fand sich ein unveröffentlichter Roman: „Auch das war Wien“, geschrieben zwischen Mai 1938 und Juni 1939 in Prag, Zürich und Paris. Die FURCHE bringt das Kapitel über den Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich 1938.

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Der große Höllenreigen war losgebrochen, nur dauerte er schon den zweiten Tag, und alles, alles fügte sich ihm ein. Nichts blieb ihm entzogen, nichts gab es, was vor ihm bestehen konnte in früherer Gestalt und Art. Alles war anders. Tot’ oder lebendig: alles war anders. Die Stadt war eine andre Stadt, die Menschen waren andre Menschen - und was diese andern Menschen in dieser andern Stadt vollführten, hatte mit Stadt und Menschen nichts mehr

gemein. Der große Höllenreigen war losgebrochen.

Er stand im Zeichen des Zeichens. So Unerhörtes geschah unter diesem Zeichen, so noch nicht Dagewesenes, als geschähe es einzig deshalb, unerhört zu sein und noch nicht dagewesen. So restlose Aufhebung aller bisherigen Gültigkeiten geschah, daß es immer zwingender einer restlosen Ungültigkeit zustrebte, nichts sollte mehr gelten, nichts, außer daß nichts mehr galt, vielleicht auch die Aufhebung nicht, vielleicht war sie schon ungültig, da sie sich noch vollzog und würde im nächsten Augenblick sich selber aufheben.

Es geschah die vollkommene Umkehrung, es kehrte sich alles um und um, in einem zuckenden, brüllenden Reigen, kehrte sich um, um sich umzukehren, der Höllenreigen an sich, zu keinem andern Zweck als dem, der er selbst schon war, zum Zweck des eigenen Mittels, des Zeichens, in dem er stand, er stand im Zeichen des Zeichens.

Dieses Zeichen: was war es denn, was bedeutete es, was galt es? Wozu dienten diese Hakenkreuzbanner, diese Hakenkreuzfähnchen, diese Hakenkreuzabzeichen?

Sie dienten nicht. Sie herrschten. Es ging um sie, um sie und nicht um die Bedeutung, die sie etwa symbolisieren mochten. Es ging darum, daß man Hakenkreuzbanner flattern lassen durfte, Hakenkreuzfähnchen schwingen, Hakenkreuzabzeichen tragen. Darum ging es. Darum war der Höllenreigen losgebrochen, und darin bestand er.

Die sich ihm hingaben, zuckend und brüllend, merkten wohl gar

nicht, wie er ihnen zum Selbstzweck erstumpfte; wie vor dem tollen Gefühl, daß sie teilhaben durften daran, alles andre dahinschwand. Dieses Gefühl nur berauschte sie, dieses Gefühl ihrer selbst, dieses Selbstgefühl. Sie fühlten sich.

Oh, wie sie sich fühlten! Sie besahen das Hakenkreuz an ihrem Rockaufschlag: und fühlten sich. Sie erhoben die Hand, brüllten ihr Hitlerheil hervor: und fühlten sich. Oh, und wie oft sie die Hand erhoben! Sie fluteten durch die Straßen, wälzten sich über die Fahrdämme aufeinander zu und verquollen wirr ineinander: nur um wieder und wieder die Hand zu erheben. Und oh, wie laut sie brüllten! Jeder für sich und in Gruppen brüllten sie, regellos brüllten sie und in strengem Takt, und brüllten immer aufs neue, brüllten hinein in den Schritt und Tritt der einmarschierenden Truppen, in das Rattern der Motorisierten, in das Getöse der Tanks und Panzerwagen überm bebenden Pflaster und in das Dröhnen der Propeller vom Himmel her, vom nahen Himmel her, denn die Flugzeuge fliegen ganz niedrig, hart über den Dächern weg, so groß zu sehen, daß selbst die schweren Bomber harmlos wirken in ihrer Greifbarkeit und mächtig nur durch den Lärm. Aber wir, wir machen ja auch Lärm.

Hei, was für Lärm wir machen, hei, heißa, heil, siegheil, heil Hitler, ein Volk - ein Reich - ein Führer, wir danken unserm Führer, heil Hitler, heißa, hei. Solchen Lärm machen wir.

Wenn einer mittendrin steht, hört er den Lärm der Flugzeuge gar nicht mehr, und wenn er vollends noch mitbrüllt, mag er fast glauben, daß er stärker sei als die Flugzeuge. So gewaltig ist der Lärm, so mächtig. Lärm ist Macht.

Oh, Macht! Die da lärmen, weil sie die Macht haben, sind von Macht durchtränkt in jeder Zuckung ihres Reigens, von Macht gehoben ist der Rausch ihres Selbstgefühls, Macht fließt und strömt, Macht, einzelweise gekeltert in jedes einzelnen Rausch, auf Flaschen abgezogene Macht für jedermann, da ist sie, da marschiert sie, da kommt sie angerattert und angedröhnt, die Macht, meine Macht, ich spüre sie, diese Macht, ich fühle sie in mir, ich fühle mich in ihr - und oh! Ich hab’ mich schon als alles mögliche gefühlt: aber mächtig noch nie. Jetzt bin ich mächtig. Jetzt habe ich Tanks und Kanonen und Bombengeschwader, ich bin groß, ich grenze ans Meer, ich bin eine Weltmacht, eine siegreiche Weltmacht, ich habe ein Land erobert, ich habe mich selbst erobert, ich habe mich einver

leibt, mir selber einverleibt, ich bin verdoppelt und bin über mich erhoben, ich habe und bin die Macht, ich brülle und stampfe vor Macht - und keiner von ihnen, wie sie da brüllen und stampfen, keiner von ihnen würde es wahrhaben wollen, daß in diesem Brüllen und Stampfen schon alle Teilhaberschaft an der Macht sich erschöpft.

Oder was wäre es sonst? Haben sie wirklich teil? Haben sie mehr als sie hatten? Sie haben nicht mehr, und sie werden auch nicht mehr haben (sondern weniger). Sie haben nichts als das Hakenkreuz im Knopfloch. Es ist das einzige, woran sie ihren Sieg erkennen, es ist ihr einziger Sieg und Gewinn: daß sie das Hakenkreuz tragen dürfen. Es ist das einzige, wodurch sie unterschieden sind von den Verlierern, von jenen völligen und garantierten Verlierern, welche das Hakenkreuz nicht tragen dürfen, es ist das einzige, wodurch sie erhoben sind über sich und über jene.

Sie haben nichts. Sie sind. Was sind sie? Arier. Was ist das? Sie wissen es nicht., Selbst dies, selbst dieses ihr ein und alles und Gloria Viktoria, vermögen sie nur an der Verneinung zu fassen, nur daran, daß sie etwas nicht sind: sie sind keine Juden. Das genügt. Das bringen sie mit und das macht ihnen niemand nach, nicht einmal die Juden. Das sichert ihnen den Zutritt. Das sichert ihnen die Teilnahmeberechtigung und Teilhaberschaft, das hebt und erhebt sie vom nichtssagenden Anbeginn bis hoch über sich hinaus und bis in den Rausch und Taumel, bis daß sie brüllen und stampfen vor Macht, vor unwiderstehlicher unbegrenzter Macht, heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt.

„So!“ sagt eine entschlossene Stimme, sagt ein dürftig aussehender Mann mit Zwicker und Regenschirm, ein Kleinbürger mittleren Alters, er trägt jedoch ein blechernes Hakenkreuz im Knopfloch und ein papier- nes Fähnchen in der Hand. „So!“ sagt er. „Und jetzt holen wir uns Deutschböhmen!“

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