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Auf der Bank

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Bei den Mitschülerinnen war er beliebt. Er war hübsch, hatte ein ovales Gesicht, einen wegstehenden widerspenstigen Bart und blaue, eigentlich hellblaue Augen. Sie nannten ihn „Dichter".

„Weshalb rufen sie dich Dichter?" wollte Lea wissen.

Lea war das hübscheste Mädchen der Klasse.

„Ich weiß es nicht."

„Was ist eigentlich ein Dichter?"

„Ich weiß es nicht."

„Ist das ein Beamter? Ein Mensch, der zeichnet? Der rechnet? Der verkauft? Der kauft? Der kämpft?"

„Ich weiß es nicht."

„Das ist offensichtlich ein Mensch, der nichts weiß", zürnte sie.

„Vielleicht", antwortete er ruhig.

Sie saßen auf einer Bank neben der Straße. An ihnen rauschte der Verkehr vorbei.

„Ich habe den alten Max gefragt, was denn ein Dichter sei."

„Jenen über Hundertjährigen?"

„Genau hundertfünf Jahre ist er alt, er wurde im letzten Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts geboren."

„Und welche Antwort bekamst du?" Der Bursche konnte seine Neugierde nicht verhehlen.

„Er sagte ... er sagte .'.. Eigentlich habe ich ihn nicht recht verstanden. Der alte Max spricht so seltsam. Er sagte, daß Dichter vor Jahren lebten, als die Menschen noch sehr unglücklich waren. Sie haben Gedichte geschrieben."

„Gedichte?"

„Ja Gedichte. Das sind irgendwelche Worte, traurige Worte über die Liebe. Weißt du, was Liebe ist?"

„Nein." '

Lea dachte nach.

„Die Liebe muß etwas Gefährliches sein, denn Max erzählte von ihr sehr leise, beinahe flüsternd. Die ganze Zeit blickte er unruhig umher, ob nicht jemand lauscht."

„Hast du von Preseren gehört?" „Nein, nie."

„Preseren war ein Dichter."

„War er unglücklich?"

„Ich weiß es nicht."

„Er mußte sehr unglücklich gewesen sein. Max sagte, daß alle Dichter unglücklich gewesen sind. Wer hat dir etwas von diesem Preseren erzählt?"

„Mein Großvater, der vor drei Jahren gestorben ist."

„Hat ihn dein Großvater persönlich gekannt?"

„Ich glaube nicht. Preseren lebte in alten unglücklichen Zeiten. Mein Großvater war sein Leben lang glücklich ... Wahrscheinlich war er als Kind auch ein wenig unglücklich, aber das gehört einer längst verflossenen Vergangenheit an, sozusagen der Geschichte. Als er von Preseren erzählte, war er sehr seltsam; seine Lippen lachten, aus seinen Augen stürzten Tränen."

Lea starrte den Mitschüler wie verzückt an.

„Eines der Gedichte Preserens, das Großvater in einem fort wiederholte, habe ich auswendig gelernt."

„Sag es auf!"

„Wirst du bestimmt nicht lachen?" „Nein, ganz bestimmt nicht." „Wirst du mich auch in der Schule nicht verpetzen?"

„Nein, ich werde es nicht."

„Gib dein Ehrenwort!"

„Ehrenwort."

„Wein nicht mein Lieb, sei nicht betrübt, schon nach sieben kurzen Jahren liegst du wieder in meinen Armen."

Lea wiederholte feierlich Wort für Wort: „WEIN NICHT MEIN LIEB, SEI NICHT BETRÜBT, SCHON NACH SIEBEN KURZEN JAHREN LIEGST DU WIEDER IN MEINEN ARMEN."

„Schön, nicht wahr?" sagte er.

„Und traurig", sagte sie.

Ihre Hände fanden von allein zueinander, mit den Lippen lachten sie, in den Augen hatten sie Tränen. In alten unglücklichen Zeiten hätte man gesagt, daß sie die Liebe verzaubert habe, aber weder Lea noch der „Dichter" kannten die Liebe. So saßen sie nur auf der Bank und glotzten die Autqs an.

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