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„Begabte Kinder sind behinderte Kinder“

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Wer bei uns Nachhilfeunterricht sagt, der denkt an „Pinsch“, „Nach- zipf’, Durchfällen, Repetieren. In Carmel, einer kleinen Stadt 210 Kilometer südlich von San Francisco, und ihrer Umgebung, gibt es Nachhüfe- stunden mit umgekehrten Vorzeichen. Dort ist vor fünfzehn Jahren eine Anzahl Eltern zur Überzeugung gelangt, die High Schools und Junior Colleges, also etwa die Mittelschulen, böten ihren begabten Sprößlingen keine ausreichenden Entfaltungsmöglickeiten. Was überdies nur allzu oft dazu führe, daß solche Kinder Lehrern, Mitschülern und nicht zuletzt sich selbst zur Plage, zum Problem würden. Bei uns hätte man auf „Abhilfe“ durch „die Behörde“ gewartet. In Carmel handelten die Eltern selbst. So entstand das „Lyceum“, eine lose Vereinigung mit dem Zweck, zusätzliche Lernmöglichkeiten für unter-, statt überforderte Schüler zu schaffen.

In der Praxis sieht das so aus: Ein Fünfzehnjähriger, angehendes Mathematikgenie, interessiert sich bereits brennend für Einsteins Relativitätstheorie. So ersucht er das „Lyceum“, ihm die Teilnahme an einem entsprechenden Kurs zu ermöglichen, oder, falls es noch keinen gibt, einen ins Leben zu rufen. Zugleich macht er mit seinem Mathematikprofessor aus, daß ihm der „Lyceum“-Kurs als „Credit“, als Zählpunkt, angerechnet werden möge. Denn - ähnlich wie in unserem Universitätssystem - braucht der amerikanische Mittelschüler für das Abschlußzeugnis eine bestimmte Anzahl „Credits“, zum Teü aus Pflicht-, zum Teü aus Wahlfächern. Der Schüler muß dann eine Abschlußarbeit über die Relativitätstheorie abliefem, anderseits wird er davon befreit, lehrplanmäßige Schulstunden in höherer Mathematik abzusitzen, über die er ja längst hinaus ist.

Das .TĖytfŠtl&n“ beschränkt sich aber keineswegs darauf, den Schullehrstoff für außergewöhnlich Begabte aufzufetten. Da finden sich junge Menschen, die einmal Mediziner werden möchtet!. Das „Lyceum“ ersucht daraufhin einen Arzt, einen Kurs abzuhalten, an seiner Klinik, mit der Gelegenheit, den Schülern beizubringen, wie man mit medizinischen Einrichtungen und Geräten umgeht. Andere können in der Ordination eines Tierarztes der Untersuchung und Behandlung von Tieren Zusehen, bekommen diese erklärt und lernen selbst kleine Handreichungen, sogar das Verabreichen von Injektionen. Wieder andere dürfen sich am Computer eines Instituts im Programmieren versuchen.

In all dem steckt ein Prinzip des „Lyceums“: weg vom Schulzimmer. Das hat einen doppelten Vorteil: Die Kinder werden mit der Realität konfrontiert, mit Phänomenen - mit positiven wie negativen - mit denen sie werden leben müssen, wollen sie den Gegenstand ihres jungen Interesses einmal zum Inhalt ihres erwachsenen Lebens machen. Dadurch, daß Kurse an den Wirkstätten der jeweiligen Unterrichtenden abgehalten werden, gelingt es außerdem um so leichter, diese hiefür zu gewinnen. Denn keiner erhält dafür auch nur einen Cent - die Teilnehmer zahlen nicht mehr als eine kleine Einschreibegebühr, ärmere nicht einmal diese.

„Es hat eben einen eigenen Reiz, über die Dinge reden zu können, die einem Herzenssache sind; darüber mit hochbegabten, interessierten jungen Menschen zu diskutieren, die eigene Begeisterung hiefür an sie weitergeben zu können“, betont Mrs. Nan Bomberger, einziger - auch nur halbtägig - bezahlter, aber ganztägig arbeitender Funktionär des „Lyceums“. Alles andere wird freiwülig geleistet, insbesondere die ausschließlich private Finanzierung durch Frauenorganisationen, kirchliche Vereine, einzelne Bürger. Daraus werden Organisationsspesen, Herstellung und Versand der Studienprogramme etc. bezahlt. Für rund 80 Kurse mit etwa tausend Teilnehmern im Jahr.

Zwangsläufig drängen sich hier Fragen auf. Wo nimmt eine so kleine

Gemeinde wie Carmel mit rund 5000 Seelen, und seine Umgebung, tausend Begabte her? Nun, Carmel, einst ein pitoreskes Fischerdorf und Bohėme- treffpunkt - Robert Louis Stevenson, Jack London gehörten zeitweise zu seinen Bewohnern - beherbergt viele Prominente, die diese schöne Küstengegend für ihren Ruhesitz gewählt haben; unweit davon gibt es eine Reihe Forschungs- und Lehrzentren, darunter die Universität Stanford. Das ergibt ein Reservoir begabter, zumindest geistig interessierter Menschen.

Ferner: öffentliche Schülerförderung, Stipendien sind in den USA an den „IQ“, den Intellegenzquotienten, gebunden. Den verfehlt so manches Kind nur knapp, nicht weil es dumm, sondern weil es bloß einseitig begabt ist - für Sprachen, nicht aber für Mathematik. Oder umgekehrt. Das „Lyceum“ hingegen schafft zusätzliche Entfaltungsmöglichkeiten für Sonderbegabungen ganz allgemein, unabhängig vom „IQ“. Also, nicht Nachhilfestunden in Fächern, in denen ein Schüler „schwach“ ist, sondern gerade in denen, wo seine Stärke liegt. Oder auch für das er außerordentliches Interesse zeigt.

Dahinter steckt typisch amerikanisches Erfolgsdenken. So geht denn auch die Frage: was geschieht für die weniger Begabten, die Langsamen, für diejenigen, die nur schwer mitkommen, an Mrs. Bomberger völlig vorbei. „Begabte Kinder sind in gewissem Sinn ebenfalls behinderte Kinder. Sie bilden genauso Probleme und brauchen genauso Hilfe wie ernsthaft geistig behinderte“, sagt sie. Und gläubig-strahlend fügt sie-übrigens selbst Mutter zweier begabter Sprößlinge - hinzu:, .Solche Kinder tragen in sich so große Möglichkeiten - vielleicht werden sie morgen die Weltprobleme lösen für kommende Generationen. Werden diese Fähigkeiten nicht entwickelt- vielleicht bleiben die Weltprobleme dann ungelöst.“

Die Bezeichnung „Lyceum“ - eigentlich „Lyceum of the Monterey Peninsula“ - wurde in Anlehnung an eine amerikanische Erwachsenenbildungs-Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts gewählt, die sich einst den gleichen, vom Lykeion, der Lehrwerkstätte des Aristoteles hergeleiteten Namen gegeben hatte. Das „Lyceum“ hat übrigens Schule gemacht. Zwei weitere, gleichen Namens und gleicher Struktur, haben Eltern vielversprechender Sprößlinge nicht allzu weit von Carmel, ebenfalls in Kalifornien, gegründet. Die drei sind jedoch, laut Mrs. Bomberger, offenbar die einzigen ihrer Art in diesem Lande, wo seit eh und je eine riesige Vielfalt nicht-öffentlicher Einrichtungen das Büdungs wesen weitgehend getragen haben.

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