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Das verlorengegangene Weltvertrauen

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Meine Uhr war am Vortag stehengeblieben und hatte mich in ein privates Chaos gestürzt, das sich rasch zum allgemeinen Chaos ausweitete. Ich habe mir ein Leben ohne Uhr ein Leben lang nicht vorstellen können, wie überhaupt alle Gegenstände, auf die ich mich verlasse, funktionieren müssen. Ein kaputter Wagen, ein kaputtes Radio, ein kaputter Fernseher, eine kaputte Uhr - das sind Tragödien, vor denen die der Alten zunichte werden. Was war Trojas Brand und des Ödipus Blendung und Kly-tämnestras Gattenmord gegenüber meiner Uhr mit den toten Zeigern? Verwesungsgeruch stieg aus dem Ziffemblatt hoch, ich zwang mich, meine Nase an die Uhr zu pressen.und mich ekelte.

Daheim in Wien jedoch hätte ich trotz aller Niedertracht der Stadt einen Ausweg aus meinem Unglück gefunden; es gab Uhrmacher, deren Anschrift ich kannte und deren Handwerkskunst ich vertraute. In Wien schien es keiner Überlegung wert: ein Uhrmacher reparierte Uhren, ein Fernsehmechaniker Fernsehgeräte, ein Automechaniker Autos, ein Arzt Körper. Ich vertraute in Wien den Reparateuren des Reparaturbedürftigen, wie der Morgen dem Tag vertraut, und es lebte sich gut im Vertrauen, so sehr mir Wien auch zuwider war. Vielleicht lag das Elend der Fremde nur darin beschlossen, daß der Hilfebedürftige nicht die Werkstatt kannte, die er brauchte. In Wien wußte ich Bescheid, oder hatte ich wenigstens Bescheid gewußt.

Der Verdacht, daß ich mir meine Vertrautheit mit Wien vielleicht nur einredete und nach der langen Abwesenheit auch dort verloren sein könnte wie hier, wenn ich einen Uhrmacher brauchte, traf mich mit voller Gewalt. Er ernüchterte mich und raubte mir den Schlaf. Mit welchem Anspruch durfte ich glauben, daß die Werkstätten Wiens auch heute noch mein Vertrauen rechtfertigten und daß sie nicht längst verzogen waren? War mein blindes Vertrauen nicht Anmaßung, ein Übermut, der nur in der Fremde gedeihen konnte? Ich mußte ja nichts auf die Probe stellen. Es kam nicht in Frage, daß ich ins Flugzeug stieg und zum Uhrmacher nach Wien flog, ich hatte leicht reden. Ich wollte nie wieder verreisen, ich vertraute weder den Fahrplänen noch den Flugzeugen noch ihrem Personal, ich vertraute dem eigenen Befinden nicht, wie konnte ich da herausfinden, ob ich, daheim in Wien, den Uhrmachern noch immer vertrauen durfte?

In meiner Jugend vertraute ich ihnen. Aber seither war Zeit vergangen. Es war die Hölle, daß meine Uhr in der größten Entfernung zu Wien, eben hier, kaputt gegangen war, und daß ich hier keinen Uhrmacher kannte. Ich hatte den Schaden beim Mittagessen bemerkt, und augenblicklich war mein Appetit zerstört. Wenn ich noch zu Ende aß und den Trebbiano dell'Umbria leerte, dann aus Pflichtgefühl und nicht mit Genuß. Wie konnte die Zeit weiterlaufen und zugleich stillstehen, der Widerspruch zerrte an mir. Ich fragte den Kellner nach dem nächsten Uhrmacher, aber der konnte mir keinen nennen. Ich ließ sogar den siziliani-schen Koch aus der Küche rufen. Ich vertraute ihm meinen Kummer an, er aber entgegnete lachend, daß er noch nie eine Uhr getragen hätte und mir rate, es ihm gleichzutun. Ich ließ den Träumer einfach stehen und verließ das Fornaio. Ich ging ins Hotel und schilderte dem Portier mein Unglück. Auch er wußte mir keinen Rat. Hierzulande würden die Dinge nicht repariert, sagte er, man werfe Kaputtes fort und kaufe Neues. Aber wie konnte ich eine neue Uhr kaufen, wenn es doch die alte war, die das Leben gemeinsam mit mir verbracht hatte?

Es gebe Uhren, die nur einen Spottpreis kosteten und doch die verläß-

lichsten seien, sagte der Portier. Aber ich hörte ihn nur aus der Ferne, denn ich ging wieder auf die Straße hinaus. Ich suchte einen Uhrmacher. Wohin ich mich wendete, gab es Uhren- und Schmuckläden. Ich trat in jeden ein, aber meistens zwangen mich schon die Gesichter des Personals zum Umkehren, und wenn es nicht die Gesichter waren, dann verjagten mich die Stimmen, die mich nach meinem Begehren fragten. Lauter Lädierte verkauften die schönen Juwelen.

Als ich mich endlich überwand und meine Not einer jungen Frau anvertraute, wollte sie meine kaputte Uhr, die ich ihr hilfeheischend entgegenstreckte, nicht einmal anfassen. Sie wies die Uhr von sich, als sei diese von einer ansteckenden, ekelerregenden Krankheit befallen. Sie könne mir

nicht helfen, sagte die junge Frau, sie glaube auch nicht, daß mir in dieser Stadt irgendwer helfen könne. Freilich sei sie gern bereit, die kaputte Uhr - ohne rechten Glauben daran, und ich möge mir nur ja keine Hoffnungen machen - an die Fabrik einzusenden. Aber die Fabrik befinde sich im Ausland, und meine Uhr, das erkenne man auf den ersten Blick, sei ein uraltes Modell. Sie bezweifle, ob man da noch viel reparieren könne. Immerhin entfaltete sie einen Umschlag, in den ich, wenn ich nur wollte, meine Uhr stecken durfte. Sie könne mir keinen Kostenvoranschlag erstellen, belehrte mich die junge Frau, und sie könne mir auch nicht sagen, wann ich diese Uhr zurückerwarten dürfe. Es werde jedoch wenigstens acht bis zehn Wochen dauern. Ich hatte mir diese

Belehrungen nicht aus ernsthafter Erwägung angehört, sondern weil ich gern durchschaut hätte, ob die Verkäuferin meine Uhr und mich verspottete oder ob sie im Ernst sprach. Ich glaube, daß sie es ernst meinte. Dankend verzichtete ich auf ihr Angebot und verließ den Laden, der mir unter den vielen Läden noch den besten Eindruck gemacht hatte.

Ich hörte dieselben Angebote dann noch an einigen weiteren Stellen und lehnte sie jedesmal ab. Als es Abend wurde, war ich zur Überzeugung gelangt, daß die Verkäufer, mit denen ich geredet hatte, mir nicht aus Gewinnsucht eine neue Uhr verkaufen wollten, sondern aus dem Notstand heraus, daß es keine Uhrmacher in der Stadt mehr gab. Ich hätte keinem dieser Angestellten, obwohl ich doch nur mit den wenigsten und den vertrauenserweckendsten überhaupt gesprochen hatte, meine kaputte Uhr anvertraut. Ich hielt sie alle - und nochmals: es waren die besten - für unbefähigt, auch nur einen korrekt beschrifteten Brief zu verschicken. Aber selbst wenn sie das Schreiben beherrschten, vertraute ich weder der Post noch den Zollbehörden noch den Empfängern einer solchen Sendung in der Fabrik im Ausland. Die vielen Handgriffe und kleinen Entscheidungen, die nötig sein würden, um meine kaputte Uhr zu reparieren und in meine Hände zurück zu befördern, überstiegen - wie ich endlich erkannte - die Möglichkeiten der Gegenwart.

Obwohl ich nicht unbedingt zur Übertreibung neige und die vermeintliche Routine meines Reparaturverlangens mit Nüchternheit betrachtete, wußte ich, daß meine Uhr und damit ihr Besitzer verloren waren. Es stand schlecht um uns. Selbst wenn alles nach Programm verlaufen und zu einem guten Ende kommen könnte, müßte ich mich von meiner Uhr acht oder zehn Wochen trennen. Es würde eine Zeit der Zweifel und der Ungewißheit sein, nur die Stärksten halten solcher Prüfung stand, ich wollte mir die Zweifelhölle und die Wartehölle nicht zumuten. Ich war außerstande, mit der kaputten Uhr am Handgelenk zu leben, und doppelt unwillig, dem Ratschlag des Portiers zu entsprechen und mir eine neue zu kaufen. Ich stand verzagt beim Stillen Ozean und sah den Kegel meiner Insel im letzten Tageslicht.

Wenn mich etwas tröstete, dann der Umstand, daß ich außer dieser Uhr

nichts Mechanisches besaß, das kaputt gehen konnte. Ich war Gast im Hotel und besaß nur meine Kleidung. Anhand der Uhr hatte ich nun erfahren, daß es keinen Uhrmacher mehr gab. Den obskuren Fabriken im Ausland vertraute ich nicht, sie verfälschten das einstmals Selbstverständliche mit dem Anspruch des Unerhört-Besonderen. Mein lautes Nein verbannte mich in die Wüste, ich war abgeschnitten von der sogenannten Welt. Hielt mich aufrecht im Glück, daß der Fernseher, der in meinem Zimmer stand, nicht mir gehörte, sondern dem Hotel, und daß ich weder Radio noch Auto noch elektrischen Rasierer noch irgendetwas besaß, das von einer Stunde zur anderen kaputt gehen und der Reparatur bedürfen könnte. Hätte ich diese Gegenstände besessen, wäre ich - bereits der verletzteste Mensch - zum verletzlichsten aller Verletztlichen geworden, und ich glaube nicht, daß ich im Wissen um mein Ausgeliefertsein hätte leben wollen.

Schon die kaputte Uhr, die ich seit Stunden in meinen schweißnassen Händen trug, überstieg meine Kraft. Ich durfte von Gnade sprechen, daß der Rest der mich umgebenden Welt nur gemietet war, wobei ich bestenfalls den Mechanismus meines Körpers ausnahm, obgleich mein Körper mir nicht gehört. Vielmehr gehöre ich meinem Körper, der ein absoluter König ist.

Wenn der Fernseher meines Zimmers nicht länger funktionieren oder wenn die Rohre im Bad undicht werden sollten, dann müßte ich nur beim Empfang anrufen. Der zahlende Gast eines ordentlichen Hotels darf erwarten, daß ein beanstandeter Schaden unverzüglich behoben wird. Wie das Hotel die Reparaturen erledigt, das würde nicht meine Sache sein wie die übrige Menschheit ihren Aufgaben nachkam - tat sie es? - und die Welt - wenigstens auf den ersten Blick - zu einer gut geölten, nur stellenweise knarrenden Bühne machte, das entzog sich seit jeher meinem Verständnis und wurde zum - nein: überstieg das Wunder. Ich war in der übelsten Kalamität vom herrlichsten Wunderbaren umgeben, ich bin es noch immer.

Vorabdruck des Beginns des fünften Kapitels des in den nächsten Tagen erscheinenden Romans: TRISTAN ISLAND. Von Erich Wolfgang Skwara. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1992. Ca. 200 Seiten, öS 249,60.

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