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Der Glaube, der Berge versetzt

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Die Gläubigkeit des polnischen Volkes wurzelt in einem grenzenlosen Gottvertrauen, wobei der Glaube weder eine Flucht nach vorne noch eine nach rückwärts ist, sondern Meisterung der Gegenwart. Die Voraussetzung dafür ist eine tausendjährige Bewahrung, der dieser Glaube nach dem Holokaust des „tausendjährigen Reiches“ in seinen brutalsten Erscheinungsformen ausgesetzt war. Eine europäische Vergangenheit, die wiederum nur von einem Polen im Hungerbunker von Auschwitz bewältigt werden konnte: Pater Maximilian Kolbe.

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Die Gläubigkeit des polnischen Volkes wurzelt in einem grenzenlosen Gottvertrauen, wobei der Glaube weder eine Flucht nach vorne noch eine nach rückwärts ist, sondern Meisterung der Gegenwart. Die Voraussetzung dafür ist eine tausendjährige Bewahrung, der dieser Glaube nach dem Holokaust des „tausendjährigen Reiches“ in seinen brutalsten Erscheinungsformen ausgesetzt war. Eine europäische Vergangenheit, die wiederum nur von einem Polen im Hungerbunker von Auschwitz bewältigt werden konnte: Pater Maximilian Kolbe.

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Überall begegnet man in Polen den Spuren des Mordens und Has-sens, die schließlieh an den Opfern dieses Volkes zerbrachen. Von weldhem Volke kann Heilung für ein von der Schuld in den betäubenden Lebensstandard geflohenes Deutschland erwartet werden? Die Antwort heißt allein: vom polnischen. Schuldlos ward es wie sein Jude Jesus geschlagen, zerschlagen, erschossen und vergast — und blieb doch ohne Haß, ohne Schrei nach Rache und Vergeltung. Überall künden in Warschau Tafeln das Andenken an die willkürlich zu Dutzenden Erschossenen. Rund 2500 Priester fielen dem Wüten der Deutschen zum Opfer, Priester, die segneten, während Masch inengewehrsalven sie niedermähten. Von Jesus, dem schuldlos zu unserer Rettung Geschlagenen, kam, wie Isaias prophezeite, Heilung und Rettung. Von polnischen Menschen, durchwegs tiefgläubigen Katholiken, wird die große Liebe zur Heilung der Schuldbeladenen und ihrer Verbündeten kommen. Gleich einem gewaltigen See hinter einer großen Stadtmauer liegt diese Nation und wartet darauf, in fließende Energie christlicher Sendung für die Welt verwandelt zu werden. Schon heute fließen — trotz aller Hindernisse — Bäche dieser aufgestauten Liebe in die Welt der Lieblosigkeit. Es ist die Macht der Schuldlosen, die Gewalt und Terror erfuhren — aber, wie Anne Frank, trotzdem an das Gute im Menschen glauben. Die Probleme der heutigen Wohlstandskirche im Westen sind ein Nichts vor der problemlosen Glaubenskirche des Ostens.

Ein Beispiel:

An der Wand des Vorraumes im Kloster der Nazarethaneriimen in Tsohenstochäu entdeckte ich dieses Photo, die Aufnahme eines Gemäldes. Ahnungsvoll bat ich die Schwester Oberin, mir diese Geschichte zu erzählen. Hier ihr Bericht: . •

Im Juli 1943 wurden in Nowogro-dek 250 polnische Männer Von der Gestapo verhaftet und sollten, als Vergeltungsaktion für die polnische Untergrundtätigkeit, erschossen werden. Weinend kamen die Frauen und Kinder von Nowogrodek zu den Schwestern der Heiligen Familie von Nazareth und baten sie um inniges Gebet für die Rettung der Männer und Väter. Die Schwestern waren von diesem Vorfall zutiefst erschüttert und erschrocken. So wurde im Kloster für die Freilassung der Verhafteten gebetet. Schwester Oberin Stella ging zum Kaplan, der noch heute in Polen lebt und Zeuge ist, und sagte: „Herr Kaplan, wir beten innigst für dieses Anliegen — aber wenn hier ein Opfer notwendig ist, so bitten wir Gott, unser Leben als Opfer anzunehmen, damit die verhafteten Männer freigelassen werden.“ Diese Worte wiederholte sie in den folgenden Tagen zum Kaplan nochmals.

31. Juli 1943: Elf von den insgesamt zwölf Schwestern (die zwölfte war nicht im Kloster und wurde so gerettet) wurden nachmittags zur Gestapo gerufen und verhaftet. Die folgende Nacht verbrachten sie im Keller des Gestapo-Gebäudes. Der Wächter bezeugte später, daß die Schwestern die ganze Nacht im Gebete verbrachten. In den frühen Morgenstunden des 1. August 1943 wurden sie mit einem Lastwagen der Gestapo in den nahen Birkenwald gefahren. Ein Massengrab war bereits ausgeschaufelt. Alle elf Schwestern wurden erschossen. Aber ihre Ermordung wurde ruchbar: Ein Mitglied des Exekutionskommandos, ein Lette, kam nach der Erschießung in sein Quartier zurück zu seiner polnischen Wirtin. Er war leicht betrunken und in nervöser Stimmung, ging im Zimmer auf und ab und redete zu sich: „Ach, wie gingen sie, wie gingen sie, ach, so wie Helden.“ Die Quartierfrau fragte: „Wer ging?“ Er antwortete: „Eure Schwestern!“ In diesem Moment wurde er nüchtern, nahm den Revolver und wollte die Polin erschießen. Die Frau kniete jedoch vor ihm nieder und flehte, sie werde das Gehörte als Geheimnis hüten. Dieselbe Frau ging dann zur Kirche und gab über ein Beichtkind dem Kaplan der Schwestern einen Zettel mit der Nachrieht über die Ermordung der Schwestern. Der Kaplan erschrak sehr und flüchtete. Kurz darauf kam die Nachricht für die Frauen und Kinder, daß die 250 Männer nicht erschossen wurden, sondern das Urteil in Zwangsarbeit im Deutschen Reich umgewandelt wurde.

Alle Männer kamen 1945 zu ihren Familien nach Polen zurück. Alle sind überzeugt, daß der Tod der Schwestern ihr Leben gerettet hat. Voller Begeisterung sagte mir die Schwester Oberin Teresia: Das ist das Ziel der Nazarethanerinnen, ihr Leben für die Familien zu opfern. EIN KNABE ALS ZEUGE:

In aller Frühe ging ein Knabe am 1. August 1943 in den nahen Wald, Pilze zu sammeln. Auf einmal hörte er Motorengeräusch — es stammte von einem deutschen Lastwagen. Vor Angst kletterte der zwölfjährige Bub schnell auf einen Baum und konnte so die Erschießung aus allernächster Nähe beobachten. Das Bild der Exekution wurde daran, nach dem Kriege, nach seinen Angaben vom Maler Styka angefertigt. — Diese Geschichte wurde mir während meines letzten Aufenthaltes in Polen von Schwester Oberin Teresia erzählt und überreicht — Frater Ivo aus Niepokalanow war Dolmetscher.

Gebet der Schwestern Allerheiligste Familie, segne und beschütze alle Familien der Welt! Bewahre sie in ihrer Einheit, die die Liebe bindet, damit sie den Gnaden und Pflichten ihrer Berufung treu bleiben. Sie mögen den Pflichten und den Geboten Gottes nach leben, damit ihr Leben ein Abglanz Deines Lebens auf Erden sei, und durch sie einmal die Freuden des ewigen Lebens erlangen mögen.

GRABINSCHRIFT DER ERMORDETEN SCHWESTERN nach der Exhumierung und Bestattung im Friedhof (1946): Jesus, Maria, Josef.

Hier ruhen die Leichname der elf Schwestern der Heiligen Familie von Nazareth, die durch die Gestapo am 1. VIII. 1943 ermordet wurden.

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